Washington. Immer mehr Menschen in den Vereinigten Staaten kommen gewaltsam zu Tode. Warum die Corona-Pandemie dabei eine wichtige Rolle spielt.

Die Eröffnung des Weihnachtsmarktes am berühmten „Love-Park“ in Philadelphia hat in diesem Jahr für Bürgermeister Jim Kenney eine besonders bittere Note. Ryan Groff ist tot. Der 29-jährige Familienvater wurde dort vor wenigen Tagen nach einem Streit von einem Wachmann erschossen.

Gregory Thomas (43) ist des Mordes angeklagt. „Er hätte überhaupt keine Waffe haben dürfen“, sagt der demokratische Stadtvorsteher. Kenney beschleicht eine böse Ahnung. 2020 lag die Mordrate mit 499 Opfern in der Stadt der Unabhängigkeitserklärung, die den Beinamen „Stadt der brüderlichen Liebe“ trägt, so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr.

In diesem Jahr fürchtet Polizeichefin Danielle Outlaw, dass die 500er-Marke durchbrochen wird. Philadelphia, mit 1,6 Millionen Einwohnern und stolzer, bald 350-jähriger Geschichte, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Chicago lag bereits Mitte Oktober bei 650 Mordopfern; der höchste Wert seit einem Vierteljahrhundert. Zum ersten Mal seit über 25 Jahren sind in den Vereinigten Staaten von Amerika im vergangenen Jahr weit über 20.000 Menschen ermordet worden – genau waren es 21.570 – überwiegend mit Schusswaffen.

Morde in den USA: Corona spielt wichtige Rolle

Kriminologen sprechen von einem Bündel von Ursachen. Dabei spielten der in der Corona-Pandemie enorm gewachsene mentale, soziale und wirtschaftliche Druck, die Spannungen in vielen, besonders in sozial schwachen Bevölkerungsschichten und Stadtteilen und die Debatte um die Rolle der Polizei wichtige Rollen.

Wie das FBI schreibt, stieg die Rate für Morde und andere Tötungsdelikte in 2020 gegenüber dem Vorjahr landesweit um rund 30 Prozent an. 5000 Tote mehr als 2019. Fast die Hälfte waren Afroamerikaner, das Gros darunter junge Männer. So wie Shaquille Barbour. Der 18-Jährige wollte in Philadelphia mit dem Rad um die Ecke zu seinem Elternhaus fahren, als ihn 13 Kugeln trafen. Shineka Crawford, seine Mutter, wartet bis heute auf Antworten. So einen eklatanten Sprung in der Kriminalitätsstatistik, von dem Metropolen wie ländliche Gebiete und demokratisch wie republikanisch regierte Regionen gleichermaßen betroffen sind, hat es fast 60 Jahre nicht mehr gegeben, meldet das FBI.

Die Daten wurden aus 16.000 Polizeibehörden gewonnen. Wobei viele Bundesstaaten unterbelichtet sind, weil sie ihre Fallzahlen nicht weitergeben. Auf 100.000 Einwohner kamen damit in den USA 2020 rund 6,5 Tötungsdelikte. In Ländern wie Deutschland ist die Relation in etwa 1:100.000.

USA: Waffen sind grenzenlos verfügbar

Weil die US-Statistiken für das erste Halbjahr 2021 einen abermaligen Anstieg anzeigen, fürchten Kriminologen wie Shani Buggs, dass sich die USA schrittweise düsteren Höchstständen nähern. 1991 wurden 25.000 Menschen in Amerika ermordet. Die Wissenschaftlerin der Universität von Kalifornien hält die schier grenzenlose Verfügbarkeit von Waffen für einen wichtigen Aspekt bei den Horrorzahlen.

Auch von Bürgerrechtsorganisationen wird die Tatsache angeführt, dass 2020 insgesamt über 23 Millionen Waffen verkauft wurden, 65 Prozent mehr als 2019. 8,4 Millionen Bürger waren Erstkäufer, darunter viele Frauen. Das „Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung ist deutlich gewachsen“, sagen Polizeigewerkschaften. Als Ursache wird auch die massive Kontroverse um die Arbeit der Polizei nach der Ermordung des Schwarzen George Floyd in Minneapolis durch Ordnungshüter angeführt. Im Nachgang kam es landesweit zu heftigen Protesten.

Viele Polizeidirektionen nahmen sich fortan bei der Verbrechensbekämpfung gerade in sozial schwachen Stadtteilen zurück. Oder mussten erhebliche Mittelkürzungen hinnehmen. Tausende „Cops“ gingen zudem in Rente oder wechselten nach Anfeindungen den Job. Mittlerweile haben einige Stadtregierungen Kürzungen rückgängig gemacht oder die Zuschüsse im Polizeiwesen sogar erhöht. Weniger Polizei gleich mehr Sicherheit, dieser Tenor ist schwer in Verruf geraten.

Mangel an Fachkräften, die Opfern Hilfe leisten

In Philadelphia hat die Tragödie bizarre Konsequenzen. Um die psychischen Schäden zu behandeln, die Angehörige von Mordopfern oder Angeschossenen erleiden, brauche es professionelle Hilfe, sagt die American Counseling Association und klagt über einen Mangel an Fachkräften, gerade in ländlichen Gegenden. Die Wartelisten werden immer länger. Viele Therapeuten, so der Verband, seien „längst am Limit oder schon ausgebrannt“.