Berlin. Christian Drosten und Kollegen warnen dringend vor der unkontrollierten Ausbreitung des Virus. Es drohe eine „humanitäre Katastrophe“.

Es sind für Wissenschaftler ungewöhnlich scharfe Worte, mit denen die Gesellschaft für Virologie sich an die Öffentlichkeit wendet: Von eskalierenden Zahlen von Todesfällen ist da die Rede, sogar von einer humanitären und wirtschaftlichen Katastrophe, auf die das Land zusteuern könnte, sollte es sich im Kampf gegen das Coronavirus für die falsche Strategie entscheiden.

Veröffentlicht vom Vorstand der Gesellschaft und entstanden unter anderem unter Mitwirkung vom Berliner Chefvirologen der Charité, Christian Drosten, und Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, ist die am Montag publizierte Stellungnahme eine deutliche Reaktion auf eine Debatte, die die Forscher beunruhigen. Lesen Sie hier: Alle Nachrichten zur Corona-Pandemie im News-Ticker.

Virologen macht Debatte um „Durchseuchung“ Sorgen

Mit Sorge nehme man wahr, dass Stimmen laut werden, die auf eine Strategie der natürlichen Durchseuchung setzen. Explizit nennen die Virologen die „Great Barrington Erklärung“ dreier Wissenschaftler aus den USA und Großbritannien, die Anfang Oktober veröffentlicht wurde.

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Deren Autoren plädieren darin für eine Strategie, die darin besteht, „denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden“, wie es in der Erklärung heißt.

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Konkret schlagen die Autoren vor, Risikogruppen weitgehend zu isolieren. So sollen sich ältere Menschen unter anderem Essen nach Hause liefern lassen. In der Pflege sollte Personal mit „erworbener Immunität“ eingesetzt werden. Außerdem sollten Personalwechsel so gering wie möglich gehalten und bei Besuchern und Pflegepersonal häufige PCR-Tests durchgeführt werden.

Drosten und Kollegen wenden sich gegen Isolierung von Älteren als Strategie

Alle anderen könnten unter diesen Bedingungen ein „normales Leben“ führen, so die Autoren, und die Gesellschaft insgesamt nach und nach Herdenimmunität erreichen. Sie nennen das Konzept „gezielten Schutz (Focused Protection)“ von Risikogruppen.

Drosten und Kollegen wenden sich nun vehement gegen diesen Ansatz. „Wir lehnen diese Strategie entschieden ab, obwohl wir selbstverständlich die enorme Belastung der Bevölkerung durch die einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen anerkennen“, heißt es in der Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie.

Virologen warnen vor „Katastrophe“

Denn auch wenn die Belastung hoch sei und derzeit auch die Gesundheitsversorgung in nicht mit Covid-19 assoziierten Bereichen leide, seien die Virologen überzeugt, dass die Schäden durch eine unkontrollierte Durchseuchung „diese Belastungen um ein Vielfaches überträfen und in eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe münden können“.

Die Gesellschaft für Virologie warnt vor einer „eskalierenden Zunahme an Todesopfern“. Schon im Falle von weit unter 20.000 Neuinfektionen pro Tag könne wegen fehlender Pflegefachkräfte das Gesundheitssystem in Deutschland überlastet sein.

Covid-19-Risikofaktoren: Neben Alter auch Übergewicht, Diabetes und viele andere

Und „selbst wenn man Menschen im Ruhestand konsequent isoliere, blieben weitere Risikogruppen. Diese seien viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt, um aktiv abgeschirmt werden zu können, heißt es in dem Papier aus Heidelberg. Als Risikofaktoren neben höherem Lebensalter nennen die Virologen die Beispiele Übergewicht, Diabetes, Krebserkrankungen, Niereninsuffizienz, chronische Lungenerkrankungen, Lebererkrankungen, Schlaganfall, Transplantationen und Schwangerschaft.

Gegen den Ansatz der Durchseuchung sprechen laut der Gesellschaft für Virologie auch mögliche Spätfolgen von Covid19 – die Krankheit kann unter anderem Atemwege, Gefäße und Nervensystem dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen.

Schließlich verweisen die Virologen darauf, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand eine überstandene Covid-19-Erkrankung nicht zweifelsfrei dauerhafte Immunität bedeutet: Zunehmend werde klar, „dass gerade die wenig symptomatischen Infektionen, wie sie bei jüngeren Menschen vorherrschen, keine stabile Immunität verleihen“.

Vor etwa einer Woche hatte bereits die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor gewarnt, bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie auf eine Herdenimmunität durch massenweise Ansteckungen zu setzen. „Niemals in der Geschichte des Gesundheitswesens wurde Herdenimmunität als eine Strategie gegen einen Ausbruch eingesetzt, geschweige denn gegen eine Pandemie“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. (tma)

Die Stellungnahme in voller Länge finden Sie hier.