Kabul. Der Westen muss mit den Taliban in Afghanistan verhandeln – und Bedingungen stellen. Dabei kommt es auf Frauen- und Mädchenrechte an.

Es ist, als sei Afghanistan verflucht. Nach dem Sturz der vom Westen über Jahre künstlich am Leben gehaltenen Regierung und der Machtübernahme der Taliban vor zwölf Monaten ist das Land in einen Strudel geraten, der es endgültig in den Abgrund zu reißen droht.

Der Klimawandel zerstört die Landwirtschaft. Eine langanhaltende Dürre lässt einstmals fruchtbare Ackerflächen ausdorren, der Grundwasserspiegel ist in vielen Regionen auf hundert Meter und tiefer abgesunken. Wenn es regnet, stürzen Wassermassen vom Himmel, die Häuser, Straßen und Brücken mitreißen, Hunderte Menschen sind in den vergangenen Monaten in den Fluten ertrunken.

Hunderttausende Menschen haben ihre Jobs verloren, Millionen sind ins Ausland geflohen. Es sind vor allem die jungen, gut Ausgebildeten, die dem Land den Rücken kehren, in dem sie keine Zukunft mehr für sich sehen; wenn sie denn herauskommen.

Afghanistan: Hungertod bedroht im Winter Millionen Menschen

Viele westliche Hilfsorganisationen haben das Land verlassen oder ihre Unterstützung heruntergedrosselt, klassische Entwicklungshilfe fließt nicht mehr, die westlichen Sanktionen lassen die Wirtschaft weiter zusammenbrechen.

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Auch im kommenden Winter werden Millionen Afghanen vom Hungertod bedroht sein. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Viele können nicht verstehen, warum die US-Amerikaner in Doha mit den Taliban unter Ausschluss der vorherigen Regierung verhandelten, nun jedoch auch das afghanische Volk mit bestrafen.

Jan Jessen, Politik-Korrespondent
Jan Jessen, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die Taliban, die das Land zwar nicht offiziell, aber de facto regieren, agieren hilf- und planlos. Noch setzen sie ihre fundamentalistische Ideologie nicht so rigide um wie zwischen 1996 und 2001, jedoch leiden insbesondere Frauen in den urbanen Zentren, weil ihre Rechte zunehmend eingeschränkt werden.

Auf dem Land, wo auch in den 20 Jahren westlichen Engagements progressive gesellschaftliche Ansätze ohnehin nie und nachhaltige Hilfe nur selten angekommen waren, hat sich wenig geändert, seit die Taliban am Ruder sind; abgesehen davon, dass sich die Versorgungslage dort immer weiter zuspitzt.

Die Fundamentalisten sind keine homogene Truppe. Es gibt unter ihnen Fanatiker genauso wie Menschen, die vergleichsweise moderat sind. Die Gefahr ist, dass sich bei einer weiteren Verschlechterung der Situation die Radikalen durchsetzen werden. Die Taliban werden ihrerseits bedroht von den Kämpfern des sogenannten „Islamischen Staates“, die einen deutlich höheren Sold als die neuen Herrscher des Landes zahlen.

43 Jahre Krieg: Für einen Aufstand fehlt den Menschen die Kraft

Afghanistan könnte zu einem Rückzugsort für Extremisten werden, die anders als die Taliban eine Bedrohung für den Westen darstellen. Zu einem Aufstand säkularer oder moderat-islamischer Kräfte reicht den Menschen nach 43 Jahren Krieg nicht mehr die Kraft. Sie wollen Frieden. Sie wollen irgendwie überleben.

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Es ist ein Dilemma: Wenn die internationale Gemeinschaft ernsthaft am Schicksal der Menschen in Afghanistan interessiert ist und nicht will, dass das Land zu einem global bedrohlichen Sicherheitsrisiko wird, muss sie mit den Taliban verhandeln. Der Westen macht gute Geschäfte mit erzkonservativen Diktaturen wie Saudi-Arabien, setzt bei Afghanistan aber andere Maßstäbe an.

Natürlich muss es Bedingungen geben: Es darf keine weiteren Einschränkungen von Menschen – insbesondere von Frauenrechten geben, auch muss Mädchen der Besuch weiterführender Schulen nicht nur erlaubt sein, sondern aktiv befördert werden. Noch ist Zeit. Aber das Zeitfenster schließt sich rasend schnell.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.