Hamburg. Ausgerechnet ein Werk des späteren Täters entdecken die Beamten nicht. Möglicherweise mit fatalen Folgen für die Zeugen Jehovas

Den entscheidenden Hinweis wollen die beiden Beamte der Waffenbehörde übersehen haben: das Buch, das Philipp F. geschrieben hatte. Das Buch des Täters, das er auf seiner Website beworben und vor allem über den Online-Buchhändler Amazon vertrieben hatte – und das Buch, das in weiten Teilen krude und wirr erscheint, das aber auch antisemitische, frauenfeindliche und verschwörungsideologische Aussagen beinhaltet.

Das Landeskriminalamt sieht ebenso wie die Staatsanwaltschaft „psychische Auffälligkeiten“ beim Täter, nachdem das Profil des Mannes nach der Tat mit Hilfe etwa von Zeugenaussagen rekonstruiert wurde. Der Täter erschoss sich bei der Tat selbst.

Anhaltspunkte für weitere Mittäter gibt es derzeit nicht. Auch einen rechtsextremen Hintergrund der Tat oder ein rechtsradikales Motiv sehen die Strafverfolger derzeit nicht. Neu ist auch: Offenbar gab es weitere Hinweise aus dem Umfeld des späteren Täters, dass er eine Gewalttat verüben könnte. Die Polizei nannte keine Details, beließ es bei Andeutungen. Die Ermittlungen laufen.

Mehr zum Thema: Amoklauf bei Zeugen Jehovas: Was bisher bekannt ist

Brisant sind die Ermittlungen zu dem Buch des Täters: Hätten die beiden Beamten bei ihrer Prüfung des Falls Philipp F. dieses Buch entdeckt, gelesen und ausgewertet – womöglich wären Menschen noch am Leben. Das ist eine bittere Aussage, zugleich eine Aussage, die heute – einige Tage nach der Tat – plausibel erscheint.

Das Buch aber hätten die beiden Polizisten, die im Einsatz der Waffenbehörden den Fall bearbeiteten, nicht gesehen. So sagt es Polizeipräsident Ralf Martin Meyer in einer Pressekonferenz zu der Amoktat am Montag. Die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft hat das Buch des Täters, das er wenige Wochen vor der Tat veröffentlicht hatte, mehrere Tage nach der Tat noch gar nicht gesehen, teilt die Behörde nun mit.

Lesen Sie auch: Zeugen Jehovas: Die wichtigsten Fragen und Antworten

Es ist eine entscheidende Frage bei der Aufarbeitung des Falls, wie die waffenrechtliche Überprüfung des späteren Täters ablief, nachdem die Behörde Mitte Januar ein anonymes Schreiben erhalten hatte. Die Polizei, der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD), aber auch der leitende Staatsanwalt und die Kriminalpolizei gaben am Montag dazu Auskunft. Am Donnerstagabend hatte Philipp F. mit einer halbautomatischen Pistole vom Typ P30 mehrere Menschen in einem Gemeindesaal der Zeugen Jehovas getötet, darunter auch ein ungeborenes Kind. Eine Person schwebt noch in Lebensgefahr im Krankenhaus.

Bilder des Großeinsatzes nach dem Amoklauf in Hamburg

Bestatter bringen eine abgedeckte Bahre zu ihrem Fahrzeug am Gebäude der Zeugen Jehovas im Stadtteil Hamburg-Alsterdorf. Bei Schüssen während einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas sind am Donnerstagabend mehrere Menschen getötet und einige Personen verletzt worden.
Bestatter bringen eine abgedeckte Bahre zu ihrem Fahrzeug am Gebäude der Zeugen Jehovas im Stadtteil Hamburg-Alsterdorf. Bei Schüssen während einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas sind am Donnerstagabend mehrere Menschen getötet und einige Personen verletzt worden. © Markus Scholz/dpa | Markus Scholz/dpa
Polizisten stehen am Freitagmorgen vor einem Gebäude der Zeugen Jehovas. Dort wurden am Donnerstag bei einem Amoklauf mehrere Menschen getötet.
Polizisten stehen am Freitagmorgen vor einem Gebäude der Zeugen Jehovas. Dort wurden am Donnerstag bei einem Amoklauf mehrere Menschen getötet. © Jonas Walzberg/dpa
Tatort des Amoklaufs war ein Gebäude der Glaubensgemeinschaft im Hamburger Stadtteil Groß Borstel.
Tatort des Amoklaufs war ein Gebäude der Glaubensgemeinschaft im Hamburger Stadtteil Groß Borstel. © epd
Noch in der Nacht haben sich Pressevertreter am Tatort versammelt.
Noch in der Nacht haben sich Pressevertreter am Tatort versammelt. © Michael Arning
Zahlreiche Polizisten waren aufgrund des Amoklaufs im Einsatz.
Zahlreiche Polizisten waren aufgrund des Amoklaufs im Einsatz. © Jonas Walzberg/dpa
Zum Teil waren die Einsatzkräfte schwer bewaffnet.
Zum Teil waren die Einsatzkräfte schwer bewaffnet. © Jonas Walzberg/dpa
Ermittler der Spurensicherung stehen vor den Gemeinderäumen der Zeugen Jehovas in Hamburg.
Ermittler der Spurensicherung stehen vor den Gemeinderäumen der Zeugen Jehovas in Hamburg. © Steven Hutchings/Tnn/dpa
In der Nacht liefen die Arbeiten der Polizei am Tatort auf Hochtouren.
In der Nacht liefen die Arbeiten der Polizei am Tatort auf Hochtouren. © Daniel Bockwoldt/picture alliance/dpa
1/8

Der Fokus liegt auf dem Agieren der Waffenbehörde. Was sind die neuen Erkenntnisse, die die Polizei nun mitteilte? Am 7. Februar besuchten zwei Polizisten, die bei der Waffenbehörde der Stadt arbeiten, Philipp F. in seiner Wohnung in Hamburg-Altona.

Hintergrund: Ein anonymer Hinweisgeber hatte kurz zuvor in einem Schreiben vor Philipp F. gewarnt, seine psychische Eignung für eine Waffenerlaubnis in Zweifel gezogen und zu einem Kontrollbesuch durch die Behörde angemahnt. Der Absender habe seine „Sorge über mögliche psychische Erkrankung“ des Täters kundgetan, so Polizeipräsident Meyer. Er habe seine „Wahnvorstellungen“ in einem Buch niedergelegt. Den Titel nennt der Hinweisgeber nicht.

Lesen Sie dazu: Amoklauf in Hamburg: Mutmaßlicher Täter war Philipp F.

Die Waffenbehörde und die Polizei bekommen bei ihrer Arbeit generell zahlreiche anonyme Schreiben, in denen Menschen durch andere Menschen angeschuldigt werden. In diesem Fall ist der Hinweis aber offenbar so detailreich und plausibel formuliert, dass die Behörde dem Fall nachgeht. Die Beamten recherchieren zur Person Philipp F., offenbar vor allem mit Hilfe der Suchmaschine Google. Die Beamten finden zudem die Firmenwebseite des späteren Täters. Sie stoßen jedoch nicht auf das Buch, das F. seit Ende Dezember verkaufte und bewarb. Auch über seine Firmenwebseite. Es ist leicht zu entdecken, ein Klick auf „Publications“ reicht, dann führt ein Link zu dem Buch.

Die Beamten stellen bei der Online-Recherche jedoch „nichts Auffälliges“ fest, so der Hamburger Polizeipräsident. Dennoch gehen sie dem Fall weiter nach – und besuchen Philipp F. in seiner Wohnung in Hamburg-Altona. Nach dem Waffenrecht ist die Behörde zu unangekündigten Kontrollbesuchen berechtigt.

Waffen – Mehr zum Thema: Waffen in privaten Händen – Behörden müssen genauer hinsehen

Doch auch der Besuch derselben Beamten, der etwa 20 bis 30 Minuten gedauert haben soll, verläuft „negativ“, heißt: keine Tatsachen, die eine psychische Erkrankung vermuten lassen. Keine Anhaltspunkte, um nach dem Waffengesetz etwa einen Amtsarzt einzuschalten. So jedenfalls stellt es die Polizei am Montag da. Nach dem Buch, auf das der Hinweisgeber verwiesen hatte, hätten die Beamten Philipp F. an dem Tag nicht gefragt, so die Behörde heute. Auch weil der Hinweisgeber davon abgeraten hatte, Philipp F. durch ein Ansprechen auf das Buch „misstrauisch“ zu machen, so Polizeipräsident Meyer.

Die Beamten finden in der Wohnung einen „kooperativen“ Philipp F., sie sehen die verschlossene Waffe in einem Safe in einem Schrank, dazu „zwei bis drei“ Magazine Munition. Später wird klar werden: F. hatte 60 Magazine a 15 Schuss im Besitz.

Das Fazit der Waffenbehörde: alles sachgemäß. Die Beamten stellen die Prüfung des Falls F. ein, finden keine Hinweise auf psychische Auffälligkeiten, finden offenbar auch das Buch des späteren Täters mit den kruden bis radikalen Gedanken nicht. Philipp F. behält die Waffe. Das ist die Darstellung, wie sie die Polizei Hamburg einige Tage nach der Tat präsentiert.

Man habe mit IT-Fachleuten das Handeln der beiden Beamten der Waffenbehörde rekonstruiert, sagt die Behördenleitung heute. Ergebnis: Mitte Januar sei das Buch „für einen normalen Menschen nicht auffindbar“ gewesen, so die Behörde heute. Für Laien sei es nur mit dem Namen des späteren Täters und dem Suchwort „Buch“ auf den Internet-Suchmaschinen „schwer zu finden gewesen“. Also auch für die Mitarbeiter der Waffenbehörde, die keine IT-Experten seien.

Auch interessant: Zeugen Jehovas attackiert – Was ist ein Königreichssaal?

Warum ist das Buch so relevant? Hätte die Behörde die Inhalte ausgewertet, geht die Polizei heute – nach dem Attentat – davon aus, dass weitere rechtliche Schritte gegen Philipp F. hätten eingeleitet werden können. Vor allem: ein psychiatrisches Gutachten, das die Eignung des Täters zum Tragen einer Waffe überprüft hätte. Womöglich hätte Philipp F. seine Waffenerlaubnis verloren. Vielleicht hätte er nicht zuschlagen können. Das aber bleiben Fragen, die nun nach der Tat aufgearbeitet werden müssen.