Berlin. Bei Corona steigen die Fallzahlen. Intensivmediziner Christian Karagiannidis sieht das enspannt – er sorgt sich um ein anderes Virus.

Arbeitskollegen, Freunde, Verwandte – fast jeder hat in seinem Umfeld wieder neue Corona-Fälle. Christian Karagiannidis war Mitglied im Corona-Expertenrat der Regierung und leitet das DIVI-Intenisvregister. Der Intensivmediziner sagt, was man über die neuen Varianten wissen muss – und wer sich schützen sollte.

Die Zahl der Corona-Fälle steigt seit Wochen wieder. Besorgt Sie das?

Christian Karagiannidis: Nein, das besorgt mich nicht. Wir haben in der Bevölkerung eine robuste Immunität entwickelt. Relativ viele Menschen sind dreimal geimpft – und fast alle haben mindestens einmal eine Infektion durchgemacht. Zusammen erzeugt das einen guten Schutz vor schweren Verläufen. Trotzdem bleibt Corona eine lästige Krankheit, viele Patienten sind einige Tage krank. Schwere Erkrankungen sehen wir aber kaum noch.

Aktuell gibt es drei Omikron-Varianten, die man im Blick haben muss – EG.5 ("Eris"), BA.2.86 ("Pirola") sowie XBB.1.16 ("Arcturus"). Pirola besorgt Experten, weil die Variante die Immunität leichter umgehen kann. Sie ist jetzt erstmals auch in Deutschland nachgewiesen worden. Droht uns eine neue Welle?

Karagiannidis: Es war zu erwarten, dass sich neue Varianten stärker der Immunität entziehen würden. Diese neuen Varianten werden jetzt mit großer Sicherheit eine Infektionswelle auslösen. Die entscheidende Frage ist aber: Führen die neuen Varianten zu schwereren Verläufen? Die Antwort ist nein: Alle drei Varianten bleiben auf dem bekannten Omikron-Niveau. Wir haben bislang keinen Hinweis darauf, dass sie schwerer krank machen. Das bestätigen auch die bisherigen Daten aus Dänemark und Großbritannien.

Erwarten Sie weitere neue Varianten?

Karagiannidis: Es wird immer wieder Varianten geben. Aber diese drei Omikron-Varianten werden wahrscheinlich bei uns in den nächsten Monaten dominant sein.

Wie wird sich die Lage im Herbst und Winter entwickeln?

Karagiannidis: Wir müssen uns darauf einstellen, dass in diesem Winter eine Infektionswelle auf die nächste folgt. Das kann bis März oder April dauern. Erst kommt jetzt die Corona-Welle, wenn es kälter wird, kommen die Grippe- und RS-Viren. Die Grippe macht mir deutlich mehr Sorgen als Corona. Wie stark die Grippewelle wird, hängt davon ab, welches Influenzavirus sich durchsetzt. H3N2 wäre weniger gefährlich, H1N1 dagegen führt zu deutlich schwereren Verläufen. Die Grippe wird uns in den Kliniken in jedem Fall mehr beschäftigen als Corona.

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Wie ist die Corona-Situation aktuell in den Krankenhäusern?

Karagiannidis: Im Moment ist die Lage gut. Wir sehen nur sehr wenige schwere Covid-Verläufe. Die Zahl der Fälle steigt zwar aktuell an, dahinter steckt aber kein dramatischer Trend. Bundesweit sind nur rund 200 Coronapatienten auf den Intensivstationen, 35 Prozent davon sind über 80 Jahre alt. Die Personalsituation ist so gut wie sie lange nicht war. Das kann sich ändern, wenn die Grippewelle kommt. Eine schwere Influenzawelle bei Patienten und Personal kann die Kliniken schnell wieder stark belasten.

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Am 18. September kommt der angepasste Corona-Impfstoff in die Arztpraxen. Die Stiko empfiehlt allen über 60 Jahre sowie Risikopatienten eine Auffrischungsimpfung. Hilft das gegen die neuen Varianten?

Karagiannidis: Bei Hochaltrigen und bei Patienten mit gedämpftem Immunsystem ist eine Impfung sinnvoll. Bei allen anderen muss man individuell entscheiden. Dabei darf man nicht vergessen: Wenn man dreimal geimpft ist, bringen weitere Impfungen nicht mehr so viel. Der erneute Booster erzeugt für ein paar Wochen einen höheren Infektionsschutz, aber der substanzielle Schutz gegen einen schweren Krankheitsverlauf ist durch die drei Impfungen und durchgemachte Infektionen bereits erreicht.

Gerade bei den Risikopatienten gibt es viele, die inzwischen impfmüde sind…

Karagiannidis: Impfmüdigkeit ist riskant – aber nicht nur wegen Corona: Die entscheidende Impfung für die Älteren und die chronisch Kranken ist in diesem Jahr die Grippeschutzimpfung. Bei der Grippe ist Impfmüdigkeit fatal. In den vergangenen Jahren war die Impfbereitschaft noch zu niedrig. Das kann sich rächen: Bei der Influenza müssen wir uns auf deutlich mehr schwerere Verläufe einstellen als bei einer Omikron-Infektion.

Sollten sich Angehörige von Risikopatienten den Corona-Booster holen?

Karagiannidis: Das bringt im Wesentlichen nicht viel. Man kann durch solche Umgebungsimpfungen die Infektionen nicht komplett unterbinden.

Gesundheitsminister Lauterbach rät auch deshalb zur Impfung, weil damit das Long-Covid-Risiko gesenkt werden könne…

Karagiannidis: Ich bin mir da nicht ganz so sicher. Diese Daten kommen aus einer Zeit, als viele noch nicht dreifach geimpft waren und/oder die Infektion durchgemacht hatten. Aktuell fehlen uns die Daten, um sicher sagen zu können, ob man auch als vollständig Geimpfter mit weiteren Boostern das Long-Covid-Risiko wirklich senken kann.

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Erste Arztpraxen haben wieder eine Maskenpflicht für Patienten mit Erkältungssymptomen eingeführt. Sollten Masken in bestimmten Bereichen wieder Standard sein?

Karagiannidis: Wir haben keinen Grund mehr für bevölkerungsweite Maßnahmen. Die Zeit ist vorbei. Wenn aber das ganze Wartezimmer voll ist mit hustenden Patienten, dann kann es durchaus sinnvoll sein, für eine gewisse Zeit in dieser Praxis eine Maskenpflicht einzuführen. Risikopatienten sollten sich in den kommenden Monaten im Zweifelsfall selbst mit einer Maske schützen.

Israel hat wegen der Ausbreitung der Pirola-Variante wieder eine PCR-Testpflicht für Klinikpatienten eingeführt. Brauchen auch wir wieder verpflichtende Tests?

Karagiannidis: Das muss jedes Krankenhaus für sich selbst entscheiden. Ich halte das im Moment nicht für nötig.

Sollte man sich bei Erkältungssymptomen in jedem Fall auf Corona testen?

Karagiannidis: Wer verantwortlich handeln will und andere vor Ansteckung schützen möchte, sollte das tun.

Glauben Sie, dass es noch einmal zu flächendeckenden Corona-Maßnahmen kommt?

Karagiannidis: Das kann man ausschließen: Staatliche Corona-Maßnahmen wird es nicht mehr geben. Im Umgang mit Corona geht es jetzt um Eigenverantwortung.

Sie sind Vater von drei Kindern. Bleiben die Schulen in diesem Winter offen?

Karagiannidis: Ja, da bin ich sicher. (Pause) Aber diese Pandemie wird möglicherweise nicht die letzte gewesen sein. Deshalb müssen wir die Schulen endlich besser auf solche Ausnahmesituationen vorbereiten. Die Digitalisierung muss jetzt endlich vorankommen.

Welche Pandemie kommt als nächste?

Karagiannidis: Das ist schwer vorherzusagen, aber es gibt Anhaltspunkte: Die Influenzaviren entwickeln sich weiter, die Vogelgrippeviren H5N1 oder H3N8 passen sich zunehmend Säugetieren und damit auch dem Menschen an. Und es gibt ja noch andere Corona-Viren, MERS zum Beispiel. Im Moment ist aber keine akute Gefahr am Horizont zu sehen.