Moskau. Die russische Gesellschaft ist homophob, die Gesetzeslage ist es auch. Homosexuelle müssen ständig damit rechnen, denunziert zu werden.

Es war mitten in der Nacht, als bei Wardan die Polizei vor der Tür stand. Angeblich, um „meine Dokumente zu überprüfen“, erinnert sich der 38-jährige Armenier. Wardan ist schwul. Seit mehr als sieben Jahren arbeitet er als Friseur in Moskau. Tatsächlich sei es ihnen aber eher darum gegangen, einen Liebhaber bei mir zu Hause zu finden. „Aber niemand war zu ihrer Enttäuschung da. Und meine Dokumente waren in Ordnung.“ Als Schwuler heutzutage in Russland zu leben, sei sehr gefährlich, sagt Wardan. Verpfiffen, mutmaßt er, hätten ihn wohl die Nachbarn.

Homosexuell zu sein ist in Russland an sich nicht verboten. Doch der Oberste Gerichtshof hat entschieden, die internationale öffentliche LGBT-Bewegung als extremistische Organisation anzuerkennen – und ihre Aktivitäten in Russland zu verbieten. Seitdem leben schwule und lesbische Menschen in Angst, die Unsicherheit ist groß. Welche Art der „LGBT-Bewegung“ überhaupt vom Obersten Gerichtshof verboten worden sei? „Wir wissen es nicht“, heißt es vom unabhängigen Online-Portal „Meduza“. Tatsächlich mutmaßen Anwälte, dass nun höchstwahrscheinlich alle Menschen in Russland gefährdet seien, die offen schwul oder lesbisch leben.

Bereits im Jahr 2019 wurde die LGBT-Bewegung bei einer Pride in St. Petersburg von Sicherheitskräften bedrängt.
Bereits im Jahr 2019 wurde die LGBT-Bewegung bei einer Pride in St. Petersburg von Sicherheitskräften bedrängt. © REUTERS | REUTERS / ANTON VAGANOV

Eine Angst, die durchaus berechtigt ist, wie der Fall des bekannten russischen Journalisten Pawel Lobkow zeigt. Er lebt offen schwul und wurde nach eigenen Angaben in der Nähe eines Parks im Zentrum Moskaus verprügelt. Lobkow postete Bilder seiner Verletzungen auf Facebook. „Das gebrochene Gesicht einer ‚Schwuchtel‘, die in einem Hof an den Patriarchen-Teichen zusammengeschlagen wurde“, schrieb er dazu. Bei dem Ort handelt es sich um eine wohlhabende Wohngegend mit einem großen Teich und Garten, etwa 35 Minuten Fußweg vom Roten Platz entfernt.

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Marina und Jelena sind lesbisch, sie haben im Ausland geheiratet und per Samenspende eines schwulen Freundes ein Kind bekommen. „Unsere einzige Sorge ist jetzt, nicht den Verdacht anderer zu wecken, dass wir ein Paar sind“, sagen die beiden unserer Zeitung. Denunziantentum sei in Russland Alltag. „Viele unserer Freunde und Kollegen sind nach Portugal gegangen, und wir denken auch darüber nach. Je älter unser Sohn wird, desto schwieriger wird es, ihn als normale Person zu erziehen.“

Russland ist die Heimat – die Option Ausland ist die „Rettungsweste“

Ins Ausland zu gehen, ist auch für den 40-jährigen Denis eine Alternative. „Für uns ist die Situation nicht einfach, du kannst jederzeit verhaftet werden“, sagt er. Zu Beginn der Teilmobilisierung im September 2022 war Denis vorübergehend in Israel, inzwischen hat er einen israelischen Pass. „In Russland ist meine Arbeit, sind meine Lieben. Es ist schwierig, das alles von jetzt auf gleich aufzugeben“, sagt er. Aber jetzt habe er eine „Rettungsweste“, die ihm die Möglichkeit gebe, in jedem gefährlichen Moment wegzugehen.

Russland-Reportagen von Jan Jessen

In Russland sind Lesben, Schwule, Trans- und Bisexuelle seit Jahren einer zunehmenden politischen Verfolgung ausgesetzt. So ist jegliche „Propaganda“ für „nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ verboten. Durch die aktuelle Gesetzesverschärfung spitzt sich die Lage zu. So gab der Sankt Petersburger Schwulenclub „Central Station“ Anfang Dezember seine Schließung bekannt. Der Vermieter habe den weiteren Betrieb untersagt, hieß es in einer Mitteilung auf Telegram. Ein Musiksender in Sankt Petersburg wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte ein Video des russischen Popstars Sergej Lasarew aus dem Jahr 2017 gespielt. In diesem Video zum Song „Tak krassiwo“, zu Deutsch: „So schön“, sind verliebte Paare zu sehen, darunter auch zwei Händchen haltende Frauen. In der „zärtliche Berührung der Hände“ sah das Gericht verbotene „LGBT-Propaganda“.

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Jüngstes Beispiel: Das Pop-Duo „t.A.T.u“, eines der erfolgreichsten russischen Musikprojekte überhaupt. Die beiden Frauen imitieren auf der Bühne eine lesbische Beziehung. Nun haben sie ihre Homepage im Netz „aufgeräumt“. Der Politologe Sergej Medwedew erinnert an einen Auftritt des russischen Pop-Duos vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst hatten: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen.“

Die russische Gesellschaft ist in weiten Teilen homophob

Bizarr auch, dass sich die Leitung einer Schule in der russischen Provinz öffentlich entschuldigen musste, weil in der traditionellen Weihnachtsaufführung vor den Kindern ein männlicher Sportlehrer die Rolle des weiblichen Schneeflöckchen gespielt hatte. Einheimische betrachteten dies als „LGBT-Propaganda“ und zeigten die Schule an. Wegen „moralische Korruption“. Die Staatsanwaltschaft und das Bildungsministerium wurden eingeschaltet – sogar der Gouverneur der Region war damit befasst. Das Ganze hätte weder einen Hintergedanken noch eine böswillige Absicht gehabt, schreibt die Schulleitung auf ihren sozialen Netzwerken. „Wir entschuldigen uns bei allen!“

Die russische Gesellschaft ist mehrheitlich homophob. Homosexualität galt in Russland bis 1993 als Verbrechen. 74 Prozent aller Russen glaubten noch 2011, Homosexualität sei eine Perversion, eine Geisteskrankheit. Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts vom Oktober2021 sind 69 Prozent der Bevölkerung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen. „Man muss sehr vorsichtig sein“, sagt der Armenier Wardan. „Frauen kommen in den Salon, in dem ich arbeite, und stellen mir Fragen. Wo ist ihre Frau, wo sind die Kinder? Und manche fragen ohne Scheu, ob es wahr sei, dass ich schwul bin.“