Brüssel. Obwohl sie mit der EU noch einen Brexit-Kompromiss erzwang, scheiterte Theresa May erneut: Das Parlament lehnte den Brexit-Deal ab.

Und wieder eine Abstimmung, dieses Mal geht es um einen Austritt Großbritanniens aus der EU ganz ohne Vertrag. Nötig wird das, nachdem Premierministerin Theresa May am Dienstagabend erneut scheiterte. Das britische Unterhaus hatte das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen erneut abgelehnt.

Nun also müssen die Abgeordneten noch einmal abstimmen. An diesem Mittwoch, ab etwa 20 Uhr deutscher Zeit, entscheiden sie, ob es einen No-Deal-Brexit geben wird. May hob dafür den Fraktionszwang im Regierungslager auf. Wenn auch diese Option durchfällt, steht am Donnerstag ein weiteres Votum an. Dann geht es darum, ob die Regierung eine Verschiebung des Brexits beantragen soll.

Theresa May erneut krachend gescheitert

Blass, müde und abgekämpft hatte May die Nachricht von ihrer historischen Niederlage am Dienstagabend entgegengenommen: Der Vertrag für einen geregelten Austritt Großbritanniens aus der EU am 29. März war mit dem Votum der Parlamentarier zum zweiten Mal krachend gescheitert – 391 Abgeordnete lehnten das lange vereinbarte Abkommen mit der EU ab, nur 242 stimmten dafür.

May hatte sieben Parlamentsstunden lang das Debakel noch abzuwenden versucht, zeitweise versagte ihre Stimme – aber am Abend verlor sie doch die entscheidende Schlacht um den Brexit-Vertrag. Größer könnte ihre Niederlage kaum sein, ein erheblicher Teil ihrer Tory-Fraktion hatte sie trotz Nachbesserungen abermals im Stich gelassen.

EU-Chefunterhändler Michael Barnier zeigte sich entsetzt.
EU-Chefunterhändler Michael Barnier zeigte sich entsetzt. © Reuters | YVES HERMAN

Entsetzen in Brüssel ist groß

Das Entsetzen in Brüssel war nach der Entscheidung am Abend groß: „Die EU hat alles ihr mögliche getan, den Vertrag ins Ziel zu bringen“, sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Mehr könne sie nicht tun. Jetzt würden die Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit wichtiger denn je, mahnte Barnier.

Was nun passiert, ist ungewiss: Brechen alle Dämme, macht das Parlament am Mittwochabend den Weg für einen britischen EU-Austritt ohne Vertrag frei – dann droht Chaos mit plötzlichen Zollkontrollen, Versorgungsengpässen und Belastungen für Bürger und die Wirtschaft auch auf dem Kontinent.

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass das Unterhaus am Donnerstag einen von May angekündigten Antrag beschließt, den Brexit-Termin zu verschieben. Ausgang ungewiss. Womöglich überlebt May das Chaos politisch nicht.

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Dabei hatte es kurz so ausgesehen, als könne die Premierministerin mit Hilfe der EU-Kommission das Blatt in letzter Minute noch wenden. Am Montagabend war May überraschend mit einer Royal-Airforce-Maschine nach Straßburg ins EU-Parlament zu EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gereist.

In der Nacht besiegelten sie dann weitere Ergänzungen des Brexit-Deals: Die von Juncker gemachten Zugeständnisse sollten den Briten die Angst nehmen, mit dem Vertrag womöglich dauerhaft in einer Zollunion mit der EU „gefangen zu bleiben“ – und dann nicht mal Freihandelsverträge mit anderen Staaten abschließen zu können.

Die Zollunion ist Teil einer umstrittenen Garantieklausel, auf der die EU beharrt, falls keine andere Regelung für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und EU-Mitglied Irland gefunden wird. In mehreren Zusatzerklärungen hatten sich Brüssel und London verpflichtet, bis Ende 2020 eine Ersatzlösung für diese umstrittene „Backstop“-Klausel auszuhandeln; für die offene Grenze soll der Einsatz neuer Technologien geprüft werden. Sollte die EU ein solches Abkommen hintertreiben, könnte Großbritannien ein Schiedsgericht anrufen mit dem Ziel, aus dem Backstop auszusteigen.

Das größte Kaliber aber ist eine einseitige Erklärung Großbritanniens, die May ebenfalls skizziert: Sollten die Verhandlungen über ein Handelsabkommen scheitern, werde nichts Großbritannien daran hindern können, den Backstop zu kündigen. Die EU stimmt dem zwar nicht ausdrücklich zu, sie fürchtet um den Frieden auf der irischen Insel, aber Juncker erhebt auch keinen Protest mehr.

Rechtliches Risiko für Großbritannien besteht weiter

Aber May hat sich mit ihrer monatelangen Verzögerungstaktik verzockt – sie hat sichtlich die Kontrolle verloren. Der Kompromiss mit Jucker war kein Durchbruch, der die Bedenken der Brexit-Hardliner ausgeräumt hätte. Die hätten gerne, dass der Vertrag selbst noch einmal aufgeschnürt wird. Das aber lehnt die EU ab.

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In Brüssel wird fest mit einer Verschiebung des Brexit gerechnet. „Besser als ein Chaos-Brexit, aber nicht wirklich beruhigend“, sagt ein EU-Diplomat. Die notwendige Zustimmung zu einer Vertagung werden die EU-Mitgliedstaaten sicher geben, aber nicht als Blankoscheck.

Die Sorge ist groß, dass auch die Verlängerung ergebnislos endet. Kommissionsbeamte haben die EU-Botschafter schon darauf eingeschworen, dass Großbritannien die EU spätestens am 24. Mai verlassen haben muss, einen Tag nach dem Beginn der EU-Parlamentswahl. Andernfalls müssten die Briten sogar noch das EU-Parlament mitwählen.

Mit absehbarer Verschiebung scheint vieles denkbar

Das aber will die EU nur zulassen, wenn die Zeit für ein neues Referendum oder gar Neuwahlen auf der Insel benötigt würde. In Brüssel wird indes spekuliert, May könne erst noch einen dritten Abstimmungsversuch starten.

Beim EU-Gipfel nächste Woche könnte sie von den Regierungschefs weitere Zugeständnisse erzwingen, in der Woche darauf den Vertrag erneut dem Parlament vorlegen, heißt es. Bewegung sei möglich, wenn May im Gegenzug eine Mehrheit im Unterhaus zusichern könne, hatten mehrere EU-Regierungschefs schon signalisiert.

Aber May kann nicht liefern. In Brüssel geht die Geduld mit ihr zu Ende, das Vertrauen auch. Kommissionspräsident Juncker sagt, es gebe entweder diesen Vertrag oder vielleicht gar keinen Brexit. Denn mit der absehbaren Verschiebung des Austrittstermins scheint vieles denkbar – auch dass eine zweite Volksabstimmung den Austritt noch stoppt. Aber will man das in Brüssel noch?

An EU-Ratspräsident Donald Tusk schreibt Juncker einen Brief, in dem er dafür wirbt, „dass unsere Hand ausgestreckt bleiben muss“. Juncker mahnt: „Wir sollten unsere Unterstützung für die Bemühungen der Premierministerin fortsetzen, einen geregelten Austritt zu sichern, der das Referendum respektiert.“