Berlin. Die Dritt- und Viertplatzierten können sich den nächsten Kanzler aussuchen. Und der Wahlsieger? Muss hoffen, dass das Telefon klingelt.

Olaf Scholz muss in den nächsten Tagen wohl tun, woran Wahlsieger in früheren Zeiten gar nicht gedacht hätten: Neben dem Telefon sitzen und hoffen, dass es klingelt. Zwar hat die SPD die Bundestagswahl gewonnen. Doch anders als in der Vergangenheit heißt das nicht, dass es Olaf Scholz sein wird, der in der Woche nach der Wahl die entscheidenden Gespräche führen wird. Denn die Union ist nur knapp hinter der SPD geblieben, auch sie wird versuchen, eine Koalition zu bilden. Und weil beide dafür die Grünen und FDP brauchen, sind die „Kleinen“ jetzt am Drücker.

Christian Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck können sich gemeinsam aussuchen, welche Koalition sie gerne hätten, mit welchem Kanzler und unter welchen Bedingungen. Es ist eine Premiere in der Geschichte der Bundesrepublik.

Grüne und FDP – Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik

Die beiden Parteien sitzen nicht zum ersten Mal gemeinsam am Verhandlungstisch. Man kennt sich von den Sondierungsgesprächen von Jamaika vor vier Jahren. Und es gibt durchaus Punkte, bei denen sich FDP und Grüne nahe sind. So stehen zum Beispiel beide für starke Bürgerrechte und eine liberale Gesellschaftspolitik, wollen den Verkauf von Cannabis legalisieren und einer Reform des Familien- und Abstammungsrechts. Auch in der Außenpolitik gibt es Gemeinsamkeiten.

Doch mindestens genauso lang ist die Liste der Differenzen, wie vor allem Lindner im Wahlkampf immer betont hatte. Denn Grüne und FDP haben ein grundlegend anderes Verständnis davon, wie der Staat und seine Bürgerinnen und Bürger zueinanderstehen.

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Hohe Hürden, aber nicht unüberwindbar

Im Klimaschutz zum Beispiel wollen zwar beide die Pariser Klimaziele erreichen, aber auch völlig unterschiedlichen Wegen. Während die Grünen eine starke Rolle des Staates in der Transformation sehen, will die FDP schnell den Emissionshandel ausweiten und sich ansonsten staatlich weitgehend raushalten. Ähnlich ist die Lage in der Finanzpolitik: Die Grünen wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz lockern, um Investitionen zu ermöglichen, das lehnt die FDP strikt ab. Auch Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, wie die Grünen sie wollen, sind für die Liberalen keine Option.

Es sind hohe Hürden für die Zusammenarbeit – aber wohl keine unüberwindbaren. Auf Landesebene gibt es sowohl die Ampel als auch Jamaika bereits.

Einigen sich FDP und Grüne auch im Bund, könnten sie für ihre Wählerinnen und Wähler deutlich mehr rausholen, als mit rund 12 bzw. 15 Prozent sonst möglich wäre. Gemeinsam spielen die „Kleinen“ bei den kommenden Verhandlungen die größte Rolle.