Berlin . Tausende anerkannte Flüchtlinge reisen auf eigene Faust. Deutschen Behörden sind machtlos. Der Fall zeigt das Scheitern des EU-Systems.

Es ist ein Jahr her, da versuchte es der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer noch ein letztes Mal. Er schrieb einen Brief an die EU-Kommission nach Brüssel – die griechische Regierung setzte er gleich mit ins Feld der Adressaten. Seehofers Ton ist ernst, fast grantig, würde man undiplomatisch sagen.

Der CSU-Politiker sehe „seit einiger Zeit den Trend“ der irregulären Weiterreise von Migranten und Asylsuchenden, die bereits in Griechenland einen Schutzstatus erhalten hatten – um dann noch einmal in Deutschland Asyl zu beantragen.

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In dem Brief, der unserer Redaktion vorliegt, schreibt Seehofer, wie mit dieser Masche „das Vertrauen in ein funktionierendes gemeinsames europäisches Asylsystem“ geschwächt werde. Deutsche Grenzpolizisten hätten Erkenntnisse über eine „illegale Infrastruktur“, die diese Weiterreise von anerkannten Asylsuchenden aus Griechenland nach Deutschland und andere EU-Staaten fördere.

„Wir müssen das gemeinsam bekämpfen“, hält Seehofer fest. Es ging damals laut Innenministerium um 17.000 Menschen, die gegen geltende Gesetze bei deutschen Asylbehörden erneut einen Schutzantrag gestellt hatten.

Mittlerweile knapp 50.000 anerkannte Asylsuchende hierher gereist

Heute ist Seehofer nicht mehr Innenminister, sondern SPD-Politikerin Nancy Faeser. Die Ampel-Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, die „Sekundärmigration zu reduzieren“. Doch Stand Ende Mai sind es nicht mehr 17.000 anerkannte Flüchtlinge aus Griechenland, die Asyl in Deutschland beantragt haben. Sondern 48.756, wie das Bundesinnenministerium auf Nachfrage mitteilt.

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Und auch wenn die Zahlen zuletzt nicht mehr so stark angestiegen waren, kommen nach Informationen unserer Redaktion jeden Monat noch immer Hunderte mehr.

Griechenland, Samos: Ein Wachmann vor Containern im neu eingerichteten Flüchtlingslager auf der Insel Samos.
Griechenland, Samos: Ein Wachmann vor Containern im neu eingerichteten Flüchtlingslager auf der Insel Samos. © dpa | Socrates Baltagiannis

Der Fall zeigt, wie die Idee eines gemeinsamen europäischen Asylsystems in den vergangenen Jahren immer weiter ausgehöhlt wurde. Wie Staaten mit der Versorgung und Unterbringung von Menschen scheitern, oder sich gar nicht erst richtig bemühen. Und wie andere die Last stemmen müssen – ohne dass sie es wollen.

Laut EU-Recht dürfen sie für 90 Tage in einen anderen EU-Staat im Schengenraum reisen

Das Problem für die Bundespolizei an der Grenze und für die Bundesregierung in Berlin: Sie können nicht mal sonderlich viel tun. Es ist das Dilemma der EU-Regularien – und die deutschen Behörden müssen mehr oder weniger machtlos der irregulären Sekundärmigration zuschauen.

Denn die anerkannten Flüchtlinge aus Griechenland kommen erstmal ganz legal. Laut EU-Recht dürfen sie für 90 Tage in einen anderen EU-Staat im Schengenraum reisen. Die entsprechenden Reisedokumente können sie bei den nationalen Behörden vor Ort beantragen – in diesem Fall: in Griechenland. Und dort stellt man die Unterlagen fleißig aus, eben auch, weil es dem Recht entspricht, jedenfalls formell. Für die Afghanen, Iraker oder Syrer ist Weg nach Deutschland dann einfach, per Flixbus oder Flieger.

Was nicht legal ist: Dass die anerkannten Geflüchteten während ihrer Zeit in Deutschland noch einmal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Asyl beantragen. Doppelt Flüchtlingsschutz suchen – das verstößt gegen EU-Recht. Nur: Den illegalen Zweck der Reise können die Grenzbeamten an deutschen Flughäfen kaum belegen – und müssen die Menschen wie Touristen passieren lassen.

In griechischen Lagern fehlen „Bett, Brot, Seife“

Das nächste Dilemma: Deutschland kann diese Flüchtlinge auch nicht nach Griechenland zurückschicken. Denn mehrere deutsche Verwaltungsgerichte verurteilten die desaströsen Zustände für Asylsuchende in Griechenland. Es bestehe die Gefahr, dass im Falle der Abschiebung nach Griechenland „elementarste Bedürfnisse“ wie „Bett, Brot, Seife“ fehlen würden.

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Also griffen das Innenministerium und das Bamf zu einem Kniff. Man legte die Asylanträge der Griechenland-Fälle auf Eis, entschied sie nicht. In der leisen Hoffnung, sie doch noch ablehnen und abschieben zu können. Und auch, so heißt es hinter den Kulissen, um den griechischen Behörden und den Geflüchteten zu signalisieren, dass man die Weiterreise nicht hinnehmen wolle.

Der Stapel wächst, täglich klopfen mehr anerkannte Geflüchtete aus Griechenland bei den Bamf-Außenstellen an. Zeitgleich ringen ranghohe Regierungsmitarbeiter und Behördenleiter seit Monaten um eine Begrenzung der Sekundärmigration aus Griechenland. Immer wieder besuchen Delegationen Athen, man trifft sich auf den griechischen Inseln, debattiert. Doch nichts ändert sich so richtig.

Mehr als 95 Millionen Euro allein in den Jahren 2014 bis 2020 für Griechenland

Und Griechenland bekommt Zusagen für Geld – vor allem aus EU-Töpfen. Mehr als 95 Millionen Euro allein in den Jahren 2014 bis 2020 für ein Notfallprogramm zur besseren Integration von Geflüchteten, heißt es von Seiten der EU-Kommission auf Nachfrage unserer Redaktion. Denn: Nach 2015 platzten die Lager vor allem auf den Inseln aus allen Nähten, es fehlte an Schlafplätzen und Toiletten, teilweise sogar an Trinkwasser. Im Winter wurde die Kälte zur Lebensgefahr. Flüchtlingslager auf Lesbos wurden zum Symbol eines Scheiterns der EU-Fluchtpolitik.

Protest für mehr Rechte für Schutzsuchende in Athen.
Protest für mehr Rechte für Schutzsuchende in Athen. © Getty Images | Ayman Oghanna

Und auch Deutschland half. Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos nahm die Bundesregierung seit Spätsommer 2020 nach eigenen Angaben 1719 Menschen aus Griechenland in einem Sonderkontingent auf, flog sie nach Deutschland. Darunter minderjährige Geflüchtete, vor allem aber mehr als 1500 bereits in Griechenland anerkannte Asylsuchende.

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So flossen Millionen nach Griechenland, so nahmen EU-Mitgliedsstaaten Schutzsuchende auf – was bliebt: die Sekundärmigration. Wer in den vergangenen Monaten mit ranghohen deutschen Behördenmitarbeitern zur Einreise aus Griechenland sprach, hörte viel Frust: Griechische Behörden würden Hilfen nicht annehmen, und wenn sie fließe, wisse man nicht genau, wo sie lande. Man sei bereit zu Zugeständnissen, aber die griechische Seite lasse sich zu nichts verpflichten. Es sei ja auch bequem, sagt einer. Man hole die Flüchtlinge von den Inseln und gebe ihnen einen Stempel, und die würden dann weiterreisen.

„Die Sekundärmigration aus Griechenland ist ein sehr ernsthaftes Problem“

Bisher bleibt das Thema im Schatten des Ukraine-Krieges und der Inflation. Und wächst die Kritik an der Bundesregierung. „Die Sekundärmigration aus Griechenland ist ein sehr ernsthaftes Problem in der Asylpolitik. Doch die Ampel-Regierung unternimmt rein gar nichts, um die Einreise und die eigentlich unzulässige, doppelte Asylantragsstellung in Deutschland zu unterbinden“, sagt der Innenexperte der Unionsfraktion im Bundestag, Alexander Throm (CDU).

Der Druck auf Griechenland müsse erhöht werden, damit das Land „selbst für ausreichende Sozialstandards“ sorge, hob Throm hervor. „Wenn Unterstützung durch Geld nicht hilft, dann muss es rechtlich unterbunden werden. Dann muss auf Initiative Deutschlands und anderer betroffener Staaten die visafreie Reise in Europa für anerkannte Flüchtlinge eingeschränkt werden.“

Das ist die eine Sichtweise. Die griechische geht anders. Offiziell antwortet die Regierung in Athen bislang nicht auf eine Anfrage unserer Redaktion. Doch klar ist: In Griechenland sieht man sich – ähnlich wie in Italien – von der EU und auch Deutschland mit der Wucht des Flüchtlingszuzugs alleingelassen. EU-Recht sieht vor, dass Menschen dort Schutz beantragen wollen, wo sie als erstes in Europa aufschlagen. Das ist fast immer eine griechische Insel oder die italienische und spanische Küste. Selten ist das Frankfurt, Bonn oder Berlin.

Gefangen im Niemandsland des europäischen Asylsystems

Streit, verhärtete Fronten und nationale Alleingänge gehen nicht nur zur Last der Behörden. Sondern vor allem treffen sie die Geflüchteten. In Griechenland leben viele in überfüllten Unterkünften auf dem Festland, oder sehen keine Chance, in dem Land zu arbeiten und Fuß zu fassen. Manche schlafen auf der Straße, leben von Almosen. Der SPD-Migrationsexperte Lars Castellucci hält fest, dass Griechenland pro Einwohner immer noch mehr Geflüchtete unterbringen muss als Deutschland oder auch Italien.

Die knapp 50.000 Flüchtlinge, von der Ägäis nach Deutschland gereist sind, hängen wiederum in den Erstunterkünften fest, ihre Verfahren beim Bamf liegen lange. Afghanen, Iraker und Syrer sind gefangen im Niemandsland des europäischen Asylsystems.

Ändern müsste dies vor allem die EU-Kommission. So sah das nicht nur Horst Seehofer. Das nun SPD-geführte Bundesinnenministerium teilt mit: „Jeden europäischen Mitgliedstaat trifft die Pflicht, für die Einhaltung der europarechtlichen Vorgaben Sorge zu tragen.“ Wie etwa Unterbringung und Versorgung. „Es obliegt der Europäischen Kommission als ‚Hüterin der Verträge‘ für die Einhaltung des EU-Rechts zu sorgen“, schreibt ein Sprecher.

SPD-Experte Castellucci sieht eine Chance in einer Allianz der aufnahmewilligen Staaten in Europa, wie sie die Ampel-Koalition gemeinsam mit Frankreich anstrebt. Es ist eine Initiative der Nationalstaaten.

EU-Kommission will „klareres Bild“

Doch in Brüsseler EU-Büros scheint sich wenig zu regen. Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Griechenland wegen der unwürdigen Versorgung der Menschen wurde bisher nicht eingeleitet. Viele in den deutschen Behörden hatten auf diesen Schritt gehofft, um überhaupt noch etwas zu erreichen.

Auf Nachfrage beruft sich die Pressestelle der EU-Kommission auf das geltende Reiserecht von anerkannten Schutzsuchenden. Bei Missbrauch sei jeder Staat selbst verantwortlich, die Menschen zurückzuschicken. EU-Regeln würden hier nicht greifen. Immerhin heißt es im Diplomaten-Sprech: Man wolle als Kommission „ein klareres Bild“ von der Situation der Geflüchteten in Griechenland bekommen. Und behalte sich vor, ein Verfahren gegen Griechenland einzuleiten, wenn EU-Verträge nicht erfüllt würden.

Nur noch rund 2000 Geflüchtete leben in den Lagern auf den griechischen Inseln

In deutschen Behörden glaubt man offenbar nicht mehr an eine schnelle Lösung. Seit einigen Monaten arbeitet das Bamf den Stapel an Asylanträgen der bereits anerkannten Schutzsuchenden aus Griechenland ab. Mit Stand Ende Mai wurden laut Innenministerium bereits 7943 Fälle entschieden. Die Anerkennung in Deutschland ist hoch, die Schutzquote liegt bei fast 90 Prozent. Die meisten bekommen „subsidiären Schutz“, weil ihnen in ihren Heimatländern wie Afghanistan oder Syrien Lebensgefahr droht.

Auf den griechischen Inseln leeren sich derweil nach Erkenntnissen der Bundesregierung die einstmals unmenschlich überfüllten Flüchtlingslager. Lebten vor zwei Jahren noch mehrere Zehntausend Menschen in Zelten, Bretterverschlägen und Containern auf einem Hügel von Lesbos, sind es aktuell gerade noch 2000. Verteilt auf allen griechischen Inseln der Ostägäis.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.