Hannover. Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, über den Ukraine-Krieg und wo sie einen eklatanten sozialen Notstand sieht.

Was hätte Jesus zu den Waffenlieferungen an die Ukraine gesagt? Sind die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr gut investiertes Geld? Der Ukraine-Krieg stellt die Evangelische Kirche vor heikle Fragen. Die Ratsvorsitzende Annette Kurschus gibt im Interview überraschende Antworten.

Putin hat die Ukraine mit einem Vernichtungskrieg überzogen. Glauben Sie, dass Gott ihn dafür bestraft?

Annette Kurschus: Das muss und will ich Gott überlassen. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht im Sinne Gottes ist, diesen Krieg zu führen. Wie Gott mit Verbrechern verfährt, wird für uns Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Ich gehe davon aus, dass wir alle – nicht nur die großen Kriegstreiber – am Ende der Tage einmal vor Gottes Angesicht Rechenschaft geben müssen über das, was wir in unserem Leben getan und nicht getan haben. Es ist nicht beliebig, was wir tun. Und es ist bei Gott nicht vergessen, was Menschen zu erleiden haben. Davon erzählen die biblischen Geschichten vom göttlichen Weltgericht.

Schließen Sie Putin in Ihre Gebete ein?

Kurschus: Ich liege Gott täglich in den Ohren, dass er das Herz dieses Menschen wenden und ihn zur Einsicht bringen möge.

Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche unterstützt Putins Angriffskrieg. Haben Sie eine Botschaft für Patriarch Kyrill?

Kurschus: Wir haben keinen direkten Kontakt zum Moskauer Patriarchen. Aber es kann nur eine Botschaft geben: Spanne Gott nicht vor deinen Karren! Nenne deine eigenen ideologischen Machtinteressen nicht Gottes Willen! Schau auf das entsetzliche Sterben, auf das Leid und das Elend, das dieser Krieg anrichtet.

Deutschland hilft der Ukraine mit schweren Waffen – selbst Kampfpanzer werden geliefert. Was würde Jesus dazu sagen?

Kurschus: Auch das frage ich mich selber täglich. Und die Antwort liegt nicht so eindeutig auf der Hand, wie wir es gerne hätten. Jesus lässt keinen Zweifel daran: Gewalt löst keine Konflikte – sie erzeugt in der Regel Gegengewalt. Und klar ist: Keine Waffe schafft Frieden im umfassenden Sinne. Aber von Jesus höre ich auch: Lass Menschen in Not nicht im Stich. Steh den Schwachen bei und hilf denen, die unterdrückt und wehrlos angegriffen werden.

Ich verstehe das Gebot der Bibel - Du sollst nicht töten - ganz klar auch so: Du darfst nicht zusehen, wenn Menschen getötet werden. Ich reklamiere für mich, dass ich in der Spur Jesu unterwegs bin, wenn ich sage: Es ist jetzt wichtig, dass wir die Ukraine auch mit Waffen unterstützen. Allerdings – und das gehört für mich unbedingt dazu – darf allein dies Ziel dieser Unterstützung sein: dass die Ukrainer sich verteidigen können, dass das grausame Töten ein Ende findet und die Waffen schweigen.

Die Ukraine soll den Krieg nicht gewinnen?

Kurschus: Es kann nicht darum gehen, Russland zu besiegen. Es geht darum, dass Friede einkehrt, dass Verhandlungen auf Augenhöhe möglich werden und die Menschen in der Ukraine in Freiheit und Würde leben können.

Die Regierung in Kiew sagt: Du kannst nicht mit einem Bären verhandeln, der gerade dein Bein frisst. Leuchtet Ihnen das nicht ein?

Kurschus: Mit einem Bären kann man nicht sprechen, mit Feinden wohl, das ist der Unterschied. Der Versuch, miteinander zu verhandeln, darf zu keiner Zeit aufhören. Es gibt ja nicht nur die große politische Bühne. Es gibt Kontakte auf so vielen unterschiedlichen Ebenen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch in dieser verfahrenen Situation Friede möglich ist.

Hat sich der christliche Pazifismus, der sich aus Jesu Bergpredigt speist, als Irrweg erwiesen?

Kurschus: Nein, er ist kein Irrweg. Der Pazifismus beziehungsweise der gewaltlose Widerstand hat in bestimmten Kontexten enorme Wirkung und Macht entfaltet; er hat Konflikte und Feindschaften befriedet. Aber er ist kein Rezept für alle Konflikte, so ist übrigens auch die Bergpredigt nicht gedacht. Das Prinzip absoluter Gewaltlosigkeit – das wir in unserer christlichen Friedensethik nie vertreten haben – gerät an deutliche Grenzen. Wir müssen in Bezug auf diesen Krieg auf der Grundlage unserer wegweisenden Friedensdenkschrift von 2007 weiterdenken, das tun wir gerade intensiv und mit vielen Akteuren und Gruppen.

Aus der Ukraine sind schon mehr als eine Million Menschen nach Deutschland geflüchtet – und haben viele Kommunen an ihre Belastungsgrenze gebracht. Schaffen die das?

Kurschus: Die Hilfsbereitschaft ist enorm, das erleben wir nicht zuletzt in unseren Kirchengemeinden. Dafür bin ich sehr dankbar, und davor habe ich großen Respekt. Wahr ist auch: Die polarisierende Berichterstattung über ein Haus, das zuvor ein Altenheim beherbergte und nun für Geflüchtete genutzt werden soll, hat gezeigt, wie empfindlich und gereizt die Atmosphäre ist. Konkurrenzdenken kommt auf: „Aha, die Flüchtlinge werden jetzt den Menschen in unserem Land vorgezogen.“ Wir dürfen nicht Not gegen Not ausspielen. Die Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten in den Kommunen muss so geschehen, dass hier keine Schieflage entsteht.

Sollten die Kommunen mehr Geld vom Bund bekommen?

Kurschus: Der Bund ist in der Verantwortung, bei der Unterbringung der Geflüchteten angemessen zu helfen. Die Forderung der Kommunen nach einer stärkeren finanziellen Unterstützung ist verständlich.

Russen, die sich der Einberufung entziehen oder vom Schlachtfeld fliehen, werden in Deutschland nicht automatisch aufgenommen. Dürfen sie auf Kirchenasyl hoffen?

Kurschus: Die Entscheidung, Kirchenasyl zu gewähren, liegt bei der einzelnen Kirchengemeinde und sie ist immer ein Einzel- und Ausnahmefall, in dem die Gemeinde sich sehr sorgfältig mit der individuellen Situation dieses einen konkreten Menschen befasst. Putin verheizt die eigenen Leute. Er schafft Elend in vielen russischen Familien. Sollte sich eine Gemeinde dazu entschließen, einem russischen Menschen, der nicht in den Krieg ziehen will, Schutzraum zu bieten, könnte ich das nachvollziehen.

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg hat die Bundeswehr auf einen Schlag 100 Milliarden Euro bekommen. Ist das gut investiertes Geld?

Kurschus: Offenbar ist es nötig, die Bundeswehr zu stärken. Davon verstehe ich wenig, ich bin keine Militärexpertin. Allerdings wüsste ich unmittelbar, wo so viel Geld auf jeden Fall bestens angelegt wäre.

Wo?

Kurschus: Wir haben einen eklatanten sozialen Notstand in unserer Gesellschaft: Kinderarmut, Altersarmut. 100 Milliarden Euro für die Armutsbekämpfung wären gut investiertes Geld.

Die Ampelkoalition plant eine Kindergrundsicherung, doch werden höhere Bezüge für arme Kinder schon wieder infrage gestellt.

Kurschus: Ich halte Kinderarmut für eines der gravierendsten Probleme, die eine Gesellschaft haben kann. Die soziale Herkunft, das belegen sämtliche Studien, wirkt sich auf Bildungschancen aus. Da entsteht ein Schaden, der sich durch einen ganzen Lebensweg zieht, bis ins Alter hinein. Daher ist aus meiner Sicht die geplante Kindergrundsicherung unverzichtbar.

Maßnahmen zum Klimaschutz belasten viele Bürger zusätzlich. Wie denken Sie über das kurzfristige Verbot neuer Öl- und Gasheizungen, das Wirtschaftsminister Robert Habeck plant?

Kurschus: Da muss man mal etwas die Panik rausnehmen. Die Gesetzesreform verlangt ja nicht, dass alle Haushalte ihre alten Öl- und Gasheizungen rausreißen. Das Gesetzesvorhaben betrifft neue Heizungen, die ab 2024 installiert werden. Ich vermute, dass viele Menschen, die gegenwärtig bauen oder ihre Heizung auswechseln, ins Grübeln kommen, ob sie demnächst mit Öl oder Gas heizen wollen. Es ist jedenfalls unbedingt nötig, die großen Treibhausemissionen, die vom Gebäudesektor ausgehen, zu reduzieren. Insofern geht das Vorhaben in die richtige Richtung. Wenn Sie Belastungen ansprechen: Es wird nicht ohne Belastungen gehen. Entscheidend ist, dass niemand mehr Lasten aufgebürdet bekommt als er tragen kann. Wir müssen dafür sorgen, die Maßnahmen so zu gestalten, dass die soziale Schere nicht immer weiter auseinandergeht. Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gehören zusammengedacht.

Was genau verstehen Sie unter sozial gerechtem Klimaschutz?

Kurschus: Die Klimafrage und die soziale Frage sind nicht voneinander zu trennen. Gesetze, die dem Schutz des Lebens dienen, dürfen nicht denjenigen schaden, die ohnehin zu wenig zum Leben haben. Klimaschutz muss sozial verträglich gestaltet werden. Die konkreten Gesetze und Instrumente dafür zu finden, ist eine politische Aufgabe. Maßgabe dabei sollte dies sein: Stärkere Schultern müssen mehr tragen als Schwache.

Bedeutet für Habecks Heizungsverbot?

Kurschus: Wir selbst haben damit bereits angefangen. Die Roadmap, die wir beschlossen haben, legt fest, dass wir in kirchlichen Gebäuden auf den Einbau fossiler Heizungen verzichten. Die evangelische Kirche hat eine Klimaschutzrichtline, die plant, bis 2035 weitgehend klimaneutral zu sein. Auf welchem Weg der Bund seine Klimaziele umsetzt, ist Entscheidung der Politik. Verbote sind manchmal unumgänglich, wenn ein Umdenken in Gang kommen soll. Allerdings, das ist meine Erfahrung, erzeugen sie oft zunächst massiven Widerstand.

Im Schatten von Krieg und Inflation zieht eine weitere Krise auf: Großbanken sind in Schieflage geraten. Worauf stellen Sie sich ein?

Kurschus: Der große Crash 2008 hat viele Gewissheiten und Sicherheiten erschüttert. Ich hoffe doch, wir haben daraus gelernt haben. Dass es trotz höherer Regulierung jetzt in der Schweiz diesen Eklat gibt, zerstört erneut Vertrauen. Wir merken, wie fragil das Bankensystem ist.

Ergo?

Kurschus: Die EKD positioniert sich eindeutig für ein gerechtes und nachhaltiges Finanzsystem. Das Wort Kredit kommt vom lateinischen „Credo“, es hat mit Glauben zu tun. Auf Glauben und Vertrauen basiert auch unser Geldsystem. Wenn das nicht mehr funktioniert, gibt es diese Zusammenbrüche. Ich bin keine Finanzfachfrau, aber nach allem, was ich verstehe, ist es erforderlich, die Finanzmärkte stärker, effizienter und globaler zu regulieren. Langfristig kommt es wohl darauf an, viel intensiver in den Blick zu nehmen, welche Risiken es gibt für die künftigen Generationen, für die armen Länder und für die natürlichen Grundlagen des Lebens. Da muss viel rechtzeitiger gegengesteuert werden, wenn sich Krisen andeuten.