Kiew. Der ukrainische Präsident spricht von 100.000 Evakuierten, Mariupol sei weiter blockiert. Das Entsetzen nach einem angeblichen Angriff auf eine Geburtsklinik der Stadt ist groß.

Aus umkämpften Städten in der Ukraine sind in den vergangenen zwei Tagen fast 100.000 Menschen evakuiert worden. Das teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gestern Abend in einer Videoansprache mit. Allerdings würden die Hafenstadt Mariupol und das nahe gelegenen Wolnowacha weiter blockiert.

Selenskyj warf Russland vor, den Fluchtkorridor und einen Sammelpunkt für flüchtende Menschen aus Mariupol gestern beschossen zu haben. Moskau tue zudem alles, um die Ukrainer in den von russischen Einheiten belagerten Städten zu täuschen. Er rief Bürger mit Kontakten zu Bewohnern von Mariupol dazu auf, diesen mitzuteilen, dass man den Kampf um die Stadt und für ein Ende der "Folter" dieser nicht aufgebe. Die Angaben sind nicht unabhängig zu prüfen.

Selenskyj äußerte sich zudem zu Russlands Vorwürfen, dass in der Ukraine biologische Waffen entwickelt würden. "In meinem Land werden keine chemischen oder anderen Massenvernichtungswaffen entwickelt", sagte er. "Die ganze Welt weiß das, und Sie wissen das auch."

Internationales Entsetzen nach Angriff auf Geburtsklinik

Der russische Angriff auf das Gebäude einer Geburtsklinik in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat international besonders großes Entsetzen ausgelöst.

"Es gibt wenige Dinge, die verkommener sind, als die Verletzlichen und Hilflosen ins Visier zu nehmen", schrieb der britische Premierminister Boris Johnson am Mittwochabend bei Twitter. Die Sprecherin von US-Präsident Joe Biden, Jen Psaki, sprach von "barbarischer Anwendung militärischer Gewalt gegen Zivilisten". Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete von 3 getöteten Zivilisten und 17 Verletzten. Moskau weist die ukrainische Darstellung entschieden als Falschmeldung zurück.

Moskau: Ukrainische Darstellung sei "Provokation"

Entgegen einer UN-Einschätzung bezeichnete das russische Verteidigungsministerium die ukrainische Darstellung über den Angriff als "informelle Provokation des Kiewer Regimes".

"Der Luftangriff, der angeblich stattgefunden hat, ist eine vollständig orchestrierte Provokation, um die antirussische Aufregung beim westlichen Publikum aufrechtzuerhalten", sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow.

Wie auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte Konaschenkow, das am Mittwoch attackierten Gebäude sei zuletzt als Lager ultraradikaler Kämpfer des ukrainischen Bataillons Asow genutzt worden.

UN-Sprecher Stephane Dujarric hingegen sagte in New York: "Das dortige Menschenrechtsteam hat bestätigt und dokumentiert, was sie als wahllosen Luftangriff auf das Krankenhaus bezeichneten, und dass das Krankenhaus zu dieser Zeit Frauen und Kinder versorgte."

Bilder verbreiten sich in sozialen Medien

Unterdessen kursieren in sozialen Netzwerken vor allem zwei Bilder: Das eine zeigt eine hochschwangere Frau auf einer Treppe voller Schutt, sie trägt einen gepunkteten Jogginganzug, im Brustbereich ist ein Teddybär aufgenäht, in ihrem Gesicht klebt Blut. Das zweite Bild zeigt eine offenbar ebenfalls schwangere Frau, die auf einer Liege durch Trümmer getragen wird. Beide Aufnahmen stammen laut ukrainischer Darstellung von dem Gelände des betroffenen Entbindungsheims.

Bitte um Hilfe für Mariupol

Die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk wandte sich in einem dramatischen Appell an die internationale Gemeinschaft. "Helft Mariupol! Dort ist eine reale humanitäre Katastrophe", sagte die 42-Jährige am Donnerstag per Videobotschaft.

Die strategisch wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer wird seit mehreren Tagen von russischen Truppen belagert. Zuletzt scheiterten mehrere Versuche, Zivilisten zu evakuieren. Die humanitäre Lage ist Beobachtern zufolge katastrophal.

Moskau kündigt Fluchtkorridore an

Das russische Militär kündigte die Einrichtung von täglichen Fluchtkorridoren aus der Ukraine nach Russland an. "Wir erklären offiziell, dass humanitäre Korridore in Richtung der Russischen Föderation (...) jetzt täglich ab 10.00 Uhr (8.00 Uhr MEZ) einseitig geöffnet werden", sagte Generaloberst Michail Misinzew am Donnerstagabend. Zudem habe Moskau der ukrainischen Seite die Evakuierung von Zivilisten aus Kiew, Sumy, Charkiw, Mariupol und Tschernihiw auch in andere ukrainische Gebiete angeboten, hieß es.

Kiew solle den entsprechenden Routen bis um 3.00 Uhr Moskauer Zeit (1.00 Uhr MEZ) am Freitagmorgen zustimmen. Außerdem solle Handwerkern aus der Region Schytomyr heraus der Zugang zum ehemaligen Atomkraftwerk Tschernobyl gewährleistet werden, damit diese die beschädigten Stromleitungen reparieren könnten, hieß es aus Moskau.

Parallelen zu Aleppo und Grosny

Es wird befürchtet, dass die Lage in Mariupol durch die russische Belagerung letztendlich so dramatisch werden könnte wie einst in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und im syrischen Aleppo. "Ich denke, was man in Mariupol vorfinden wird, wenn der Krieg vorbei ist, wird schrecklich sein", sagte der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian kürzlich. Auch der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, zog bereits die Parallele zu Aleppo und Grosny.

Ungeachtet der wiederholten Beteuerungen aus Moskau, nicht gezielt Zivilisten anzugreifen, meldete Mariupol am Donnerstag einen erneuten Beschuss von Wohngebieten. Nach Angaben der lokalen Behörden wurden mehrere Bomben abgeworfen. Auch das ließ sich zunächst nicht überprüfen. "Die Zerstörung ist enorm", teilte der Stadtrat von Mariupol mit.

UN-Menschenrechtsbüro: 549 Zivilisten getötet

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte dokumentierte seit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar und bis Mittwoch, 00.00 Uhr, den Tod von 549 Zivilisten in der Ukraine. Am Vortag waren es 516. Darunter waren 41 Minderjährige, wie das Büro in Genf berichtete. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 957 Verletzte vor. Am Vortag waren es 908.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betont stets, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher lägen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bräuchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.

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