Berlin. SPD, Grüne und FDP haben sich auf Koalitionsverhandlungen geeinigt. Grundlage ist ein gemeinsames Sondierungspapier. Das steht drin.

Die Sondierungsteams von SPD, Grünen und FDP wollen nach den Gesprächen der letzten Tage ihren Parteien die Aufnahme von formellen Koalitionsverhandlungen empfehlen. Das erklärten die Parteispitzen und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am Freitagmittag in Berlin.

Das Sondierungspapier, mit dem die Ergebnisse der Gespräche verschriftlicht wurden, sei ein „sehr gutes Ergebnis“, sagte Scholz. Es mache deutlich, dass in Deutschland eine Regierung gebildet werden könne, die in der Lage ist, einen Fortschritt zu erreichen. Er sprach vom „größten industriellen Modernisierungsprojekt“, das in Deutschland seit 100 Jahren durchgeführt worden sei.

Ampel-Verhandler überzeugt von ambitioniertem Koalitionsvertrag

„Wir sind davon überzeugt, dass wir einen ambitionierten und tragfähigen Koalitionsvertrag schließen können“, heißt es in dem Papier. Festgehalten als Ziele sind auf 12 Seiten unter anderem eine Modernisierung des Staates, verstärkte Anstrengungen im Klimaschutz und soziale Sicherheit.

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Konkret nehmen sich die Sondierungsteams einen deutlich früheren Kohleausstieg vor („Idealerweise gelingt das schon bis 2030“), eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und einen Einstieg in die Aktienrente. Nach den Vorschlägen der EU-Kommission im "Fit for 55"-Paket rechnen die Sondierer damit, dass ab 2035 in Europa nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen werden – "entsprechend früher wirkt sich dies in Deutschland aus", heißt es im Papier. Ein Tempolimit auf Autobahnen soll es nicht geben.

Bis in die frühen Morgenstunden des Freitags war über das Papier nach Angaben der Sondierer beraten worden. Bislang sei das Papier „relativ knapp“ gefasst, sagte Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock. Deshalb werde es in den einzelnen Feldern noch Konkretisierungen geben.

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Habeck zu Ampel: Ziele der Koalition ohne Steuererhöhung möglich

Wie weit ein solches Bündnis tragen könne, lasse sich an zwei Aspekten ablesen, sagte Grünen-Parteichef Robert Habeck. Zum einen daran, dass genug Investitionsspielraum geschaffen worden sei ohne zusätzliche Belastungen für Bürgerinnen und Bürger, also ohne Steuererhöhungen. Der zweite „Glutkern“ des sich abzeichnenden Bündnisses sei eine gesellschaftliche Liberalisierung.

Die Grünen wollen für Sonntag einen kleinen Parteitag, den sogenannten Länderrat, einberufen. Dieser soll über die Aufnahme von Koalitionsgesprächen abstimmen. Die SPD will noch am Freitagnachmittag eine Sondersitzung der Fraktion abhalten. Das Sondierungsteam der FPD wird laut Parteichef Christian Lindner den Gremien der Partei am Montag den Eintritt in formale Koalitionsgespräche empfehlen.

In der Folge haben wir die wesentlichen Punkte des Sondierungspapiers noch einmal zusammengefasst - geordnet nach Themengebieten.

Klimaschutz

Die Sondierungsteams haben bekräftigt, dass Deutschland durch das Pariser Abkommen und die Entscheidung des Verfassungsgerichts gebunden ist: Das Land muss auf einen Pfad zu maximal 1,5 Grad Erderwärmung kommen. Dafür wollen die Parteien unter anderem den Ausbau der Erneuerbaren „drastisch“ beschleunigten: Zwei Prozent der Landesfläche sollen für Windkraft bereitgehalten werden, die betroffenen Kommunen sollen davon finanziell profitieren. Auf Dächern von Gewerbeneubauten sollen Solaranlagen Pflicht werden, für private Bauten „die Regel“.

Wohnen

Ziel ist der Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 öffentlich geförderte. Dazu soll es ein „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ mit allen Akteuren geben. Für angespannte Märkte sollen geltende Mieterschutzregelungen evaluiert und verlängert werden.

Rente und Soziales

Die SPD kann für sich in Anspruch nehmen, ein Versprechen umzusetzen, denn im Papier steht, dass das Mindestrentenniveau bei 48 Prozent gesichert wird, es keine Kürzungen und auch kein höheres Eintrittsalter geben wird. Um das nicht (nur) mit den Mitteln des Bundeshaushalts garantieren zu müssen, ist allerdings auch der Eintritt in die Aktienrente festgehalten: Die Rentenversicherung soll in Zukunft auch am Kapitalmarkt anlegen können, 10 Milliarden Haushaltsgeld soll sie dafür 2022 bekommen.

Hartz IV soll künftig Bürgergeld heißen und bessere Möglichkeiten zum Zuverdienst haben. Die Mitwirkungspflicht und damit die Sanktionen bleiben aber erhalten. Neu ist eine Kindergrundsicherung, in der bisherige Leistungen gebündelt und direkt bei Kindern ankommen sollen.

Gesellschaft

Die möglichen Ampel-Partner wollen das Recht „der gesellschaftlichen Realität anpassen“ – zum Beispiel mit Reformen beim Staatsangehörigkeitsrecht, Familienrecht, Abstammungsrecht und dem Transsexuellengesetz. Dazu gehören unter anderem ein Punktesystem für Fachkräfte aus dem Ausland und der „Spurwechsel“ für gut integrierte Asylbewerber.

Im Grundgesetz soll das Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität ergänzt werden, und dafür der Begriff „Rasse“ gestrichen und durch eine andere Formulierung ersetzt. Und auch das Wahlalter ab 16 kommt, wenn die Koalitionsverhandlungen gelingen sollten.

Finanzen und Steuern

In der Frage, wie die Pläne finanziert werden sollen, gingen die Vorschläge wohl am weitesten auseinander. Jetzt steht fest: Es soll keine Vermögenssteuer geben, auch keine Steuererhöhungen – beides Punkte, die sich die FDP als Erfolge verbuchen kann. Um trotzdem Geld für Investitionen zu haben, setzen die Parteien unter anderem auf die globale Mindeststeuer, die Olaf Scholz vorantreibt, und den Kampf gegen Steuerhinterziehung. Überflüssige und klimaschädliche Subventionen kommen auf den Prüfstand.

Wo das Papier an anderen Stellen allerdings schon recht konkret wird, bleiben die Formulierungen im Finanzteil häufig vage bis dehnbar. Konkrete Zahlen finden sich darin gar nicht.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Ergebnispapier muss noch von den Parteigremien abgesegnet werden: Der SPD-Vorstand stimmte schon am Freitag einstimmig Koalitionsgesprächen zu. Bei den Grünen muss ein kleiner Parteitag am Sonntag den Daumen heben, bei der FDP sollen der Bundesvorstand und die Fraktion am Montag ihr Votum abgeben. Danach können Koalitionsverhandlungen beginnen.

Der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, kritisierte das Ergebnis scharf. „Das Sondierungsergebnis liest sich wie ein ‚Buch der edlen Vorhaben‘. Wenig Konkretes, viel Lyrik“, sagte er unserer Redaktion. Die Finanzierungsfragen seien „vage bis offen“. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lobte hingegen den proeuropäischen Kurs: „Es wird eine Regierung sein, (...) die weiß, was Europa uns für Frieden und Freiheit bedeutet“. Das sei eine wichtige Botschaft für die EU-Staaten, sagte Merkel.