Rom. Italien kämpft gegen steigende Flüchtlingszahlen. Der Blick richtet sich mit Sorge nach Libyen: Dort sollen 700.000 Migranten warten.

Holzstücke, leere Benzinkanister, Motorenteile und Plüschtiere: Das Meer spült die letzten Reste des Fischkutters an, das vor der Küste der Kleinstadt Cutro im Herzen Kalabriens gesunken ist. Der weiße Sandstrand, an dem sich im Sommer Badende vergnügt tummeln, ist zum Unglücksort geworden.

Hier zerschellte vor zweieinhalb Wochen die vom türkischen Izmir abgefahrene „Summer Love“ – ein Fischkutter mit circa 180 Migranten an Bord, die in Europa auf eine bessere Zukunft hofften. 150 Meter vor der Küste Cutros kenterte das Schiff mit dem romantischen Namen. Inzwischen wurden 86 Leichen geborgen, darunter 35 Kinder. Fast kein Tag vergeht, ohne dass weitere Menschenreste gefunden werden. 15 Menschen werden laut Angaben der Behörden noch vermisst.

Aus Afghanistan, Pakistan und Iran stmmen die verunglückten Migranten, viele von ihnen haben Angehörige, die aus Deutschland angereist sind, um nach ihren vermissten Familienmitgliedern zu suchen. „Bitte gebt die Suche nach den letzten Vermissten nicht auf“, fleht Zahra Barati, eine Afghanin, die bei dem Schiffbruch am 26. Februar ihren Bruder verloren hat. Er wollte sie in Finnland erreichen, bevor er knapp vor dem Ziel in Kalabrien ertrank.

Cutro hat Abwanderung selbst erlebt – auch nach Deutschland

Zahra blickt auf das glatte Meer, das ruhig vor ihr liegt. Nichts erinnert mehr an den nächtlichen Sturm, der zum Unglück beigetragen hat. „Für unsere Gemeinschaft ist dieses Ereignis eine Tragödie“, sagt der Bürgermeister von Cutro, Antonio Ceraso. „Wir trauern um die Toten, als hätten wir unsere eigenen Angehörigen verloren. Ein Drama dieses Ausmaßes haben wir noch nie erlebt.“

Seine Gemeinde mit circa 10.500 Einwohnern kennt das Phänomen der Migration gut. Denn in den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Bürger aus Cutro auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand nach Deutschland und in die USA ausgewandert. Viele sind später in die Heimat zurückgekehrt. So ist es nicht ungewöhnlich, auf dem Hauptplatz Cutros Personen zu finden, die fließend Deutsch sprechen.

Auch interessant: Deutschland soll Flüchtlinge der „SOS Humanity“ aufnehmen

Die Gemeinde hat mit großer Solidarität auf die Tragödie reagiert. Bürgermeister Ceraso setzte alle Hebel in Bewegung, um den Überlebenden bei der Erledigung der bürokratischen Hürden für die Beerdigung der Angehörigen die bestmögliche Unterstützung zu sichern. Einige Särge konnten bereits nach Pakistan überführt werden. Problematischer erweist sich indes die Lage für die Afghanen. Wegen der Wirren im Land ist es unmöglich, die Leichen derzeit in ihre Heimat zurückzuführen.

In Lampedusa kamen seit Jahresbeginn 21.000 Migranten an

„Wir fragen uns jetzt, was mit den Überlebenden geschieht. Wie können Väter, die bei der Tragödie Frau und Kinder verloren haben, weiterleben? Was tun die Kinder, die ihre Eltern verloren haben?“, quält sich Ceraso, während er auf dem lokalen Friedhof ein 900 Meter großes Gelände für die Leichen frei macht und die Beerdigung organisiert.

Nicht nur Cutro ist direkt mit den Folgen der starken Migrationsbewegungen konfrontiert. Auch die Insel Lampedusa, die inzwischen als Migrantenghetto im Mittelmeer bekannt ist, stöhnt unter dem Einwanderungsstrom, der ein Rekordniveau erreicht hat. 21.000 Migranten sind in Italien seit Jahresbeginn angelandet, mehr als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum 2022. Der Anstieg konzentrierte sich besonders auf die drei Tage vom 9. bis 11. März, als 4566 Menschen ankamen, wie aus Angaben des Innenministeriums in Rom hervorgeht.

86 Menschen starben beim Untergang der „Summer Love“ - darunter 35 Kinder.
86 Menschen starben beim Untergang der „Summer Love“ - darunter 35 Kinder. © AFP | GIANLUCA CHININEA

In den vergangenen Monaten gibt es immer mehr kleine Boote, die Gruppen von Tunesiern nach Lampedusa bringen. Tunesier gelten als Wirtschaftsmigranten. Sie haben in Italien keinerlei Hoffnung auf einen Flüchtlingsstatus. Die meisten von ihnen tauchen nach der Landung in Italien unter, versuchen Angehörige in Norditalien, Frankreich und anderen europäischen Ländern zu erreichen oder schlagen sich als Illegale ohne Aufenthaltsrecht durch.

Meloni ist es nicht gelungen, die Migration nach Italien zu stoppen

Das Flüchtlingslager Lampedusas ist chronisch überfüllt. Bürgermeister Filippo Mannino hat alle Hände voll zu tun, um die Unterbringung der neuen Migranten zu organisieren, die täglich die Insel erreichen. „Trotz der großen Probleme in der heillos überfüllten Flüchtlingseinrichtung ist es wichtig, dass die Migranten sicher landen können“, betont Mannino. Er lobt den unermüdlichen Einsatz der Küstenwache, die täglich Dutzende Menschen rettet.

Wegen des starken Migrationsdrucks ist Regierungschefin Giorgia Meloni arg unter Beschuss geraten. Die Rechtsaußenpolitikerin war im September hauptsächlich auch dank des Versprechens gewählt worden, die Migrationsströme aus Nordafrika zu stoppen. Dies scheint ihr trotz scharfer Kampfparolen nicht zu gelingen. Deshalb warnt die Regierung mit Nachdruck davor, dass das Problem bei weiterhin zunehmender Zahl von Ankünften außer Kontrolle geraten könnte.

Auch interessant: 100 Tage Meloni - „Wölfin im Schafspelz“ überrascht Skeptiker

„Hier geht es nicht mehr um die Frage, ob wir Migranten aufnehmen sollen oder nicht. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das in einigen Monaten eine unüberschaubare Dimension annehmen könnte“, alarmierte Europaminister Raffaele Fitto. Die Geheimdienste hatten am Wochenende die Regierung davor gewarnt, dass fast 700.000 Migranten in Libyen zur Abfahrt in Richtung Italien bereit seien.

Regierung macht Wagner-Gruppe für hohe Migration mitverantwortlich

Für die großen Migrationsbewegungen macht die Regierung unter anderem die russische Söldergruppe „Wagner“ verantwortlich, die in Libyen breite Teile der Küste kontrolliert. Verteidigungsminister Guido Crosetto betonte, die Zunahme der Überfahrten sei klar als Teil der hybriden Kriegsführung Moskaus gegen den Westen zu erkennen.

Die Wagner-Gruppe verfüge in einigen afrikanischen Ländern, vor allem in Libyen, über erheblichen politischen Einfluss und könne so die Migrantenströme lenken, glaubt Crosetto. In Syrien, Mali, Libyen und der Zentralafrikanischen Republik soll die Wagner-Gruppe an der Niederschlagung von Aufständen beteiligt gewesen sein.

Mehr zum Thema: Putins gefährlicher Plan für Afrika - das steckt dahinter