Berlin. Deutschland hält auch nach dem Massaker von Butscha an russisches Energie-Lieferungen fest. Es gibt Warnungen aus der Wirtschaft.

Die grausamen Bilder von russischen Kriegsverbrechen in der ­ukrainischen Stadt Butscha haben weltweit Entsetzen ausgelöst. In der deutschen Politik werden die Rufe nach einem sofortigen Einfuhr-Stopp für russisches Gas lauter. Was wären die Folgen für die deutsche Wirtschaft? Und könnte ein Gas-Stopp einen Völkermord in der Ukraine verhindern?

Was ist der neueste Stand in Butscha?

Die Kiewer Zeitung „Ukrajinska Prawda“ meldete unter Berufung auf einen Bestattungsdienst, bis Sonntagabend seien 330 bis 340 leblose Körper eingesammelt worden. Die Ukraine macht für das Massaker in Butscha russische Truppen verantwortlich, die vor einigen Tagen abgezogen waren. Moskau bestreitet das und spricht von „Fälschung“. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat sogar eine Pressekonferenz seines UN-Botschafters in New York angekündigt, um diese „Fälschung“ zu belegen.

In Butscha werden die auf den Straßen liegenden Leichen in einen Lieferwagen geladen.
In Butscha werden die auf den Straßen liegenden Leichen in einen Lieferwagen geladen. © AFP | SERGEI SUPINSKY

Unterdessen forderten Polen und Spanien internationale Ermittlungen. Die Kriegsverbrechen in Butscha seien ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, hieß es. Der Strafgerichtshof verfolgt individuelle Verdächtige wegen Kriegsverbrechen und Völkermords und hat für das Gebiet der Ukraine ein Mandat. Chefankläger Karim Khan leitete bereits Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine ein.

Auch die Staatsanwaltschaft der Ukraine, ein europäisches Ermittlerteam und Menschenrechtsorganisationen sammeln Beweise wie etwa Fotos, Videos, Munitionsreste und Aussagen von Augenzeugen. US-Präsident Joe Biden forderte, den russischen Staatschef Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen.

Wie reagiert die deutsche Politik?

Die Bundesregierung kündigte eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland sowie eine Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine an. Einen sofortigen Stopp von Gas-, Öl- und Kohle-Lieferungen aus Russland lehnt die Ampelkoalition aber weiterhin ab. Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter forderte hingegen: „Ich bin der Meinung, gestützt auf Unmengen Experten und nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, dass es möglich ist.“ Auch die Grünen-Politikerin Marieluise Beck verlangte ein sofortiges Energie-Embargo.

Der ukrainische Präsident Selenskyj machte sich selbst ein Bild vom Ort des Schreckens.
Der ukrainische Präsident Selenskyj machte sich selbst ein Bild vom Ort des Schreckens. © dpa | Efrem Lukatsky

Wie sehr hängt die deutsche Wirtschaft von Energie-Importen aus Russland ab?

Ein Großteil der deutschen Energie-Einfuhren stammt aus Russland. Im vergangenen Jahr traf dies auf 55 Prozent der Gas-Importe, 35 Prozent der Öl-Importe und 50 Prozent der Kohle-Importe zu. Im ersten Quartal 2022 hat sich hingegen der Anteil der Gas-Einfuhren aus Russland auf rund 40 Prozent vermindert. Die fehlenden Mengen wurden durch Lieferungen aus den Niederlanden und Norwegen ausgeglichen.

Nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums sinkt die Abhängigkeit von russischem Öl durch Vertragsumstellungen bereits auf etwa 25 Prozent. Bis Mitte des Jahres sollen die russischen Öl-Importe halbiert sein. Bis Jahresende wird die Unabhängigkeit von russischem Öl angestrebt. Im Fall von Gas sei eine drastische Reduzierung erst in etwa zwei Jahren möglich. Lesen Sie auch:Wie Deutschland bald Gas aus Katar erhält

Welche Folgen hätte ein sofortiger Gas-Stopp für die deutsche Wirtschaft?

Kanzler Olaf Scholz (SPD) begründet sein Nein mit den Worten: „Aber wenn von einem Tag auf den anderen diese Importe ausblieben, würde das dazu führen, dass ganze Industriezweige ihre Tätigkeit einstellen müssten.“ Es gehe um „unglaublich viele Arbeitsplätze“. Auch den ukrainischen Vorschlag eines einmonatigen Embargos wies Scholz zurück.

Die Wirtschaftsprofessorin Monika Schnitzer, Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung (Wirtschaftsweise), sagte unserer Redaktion: „Wenn man die Teileffekte verschiedener Studien zusammenrechnet, könnte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um fünf Prozentpunkte zurückgehen. Man kann aber nicht ausschließen, dass der Rückgang deutlich höher sein könnte.“ Das Problem bestehe darin, dass es kein Beispiel aus der Vergangenheit mit einem derart großen Schock gebe, den man für eine Prognose zugrunde legen könnte.

Ein wirtschaftlicher Einbruch infolge eines sofortigen Import-Stopps für Gas wäre nicht mit dem Rückgang im Zuge der Corona-Pandemie vergleichbar, so Schnitzer. „In der Pandemie konnte man davon ausgehen, dass die Schließung von Geschäften oder Restaurants die Wirtschaft nur vorübergehend in Mitleidenschaft ziehen und nach Wegfall der Einschränkungen die Erholung zügig wieder einsetzen würde.“ Ein sofortiger Import-Stopp für Gas wäre hingegen mit einem „einschneidenden Umbau der deutschen Industrie“ verbunden. „Das würde viele Jahre in Anspruch nehmen. Der Erholungsprozess würde deutlich länger dauern als bei Corona.“

Industrie schlägt Alarm

Zu einer anderen Einschätzung kommt die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften: Sie hält einen kurzfristigen Gas-Lieferstopp für die deutsche Volkswirtschaft für handhabbar. Sie warnt aber zugleich vor möglichen Versorgungsengpässen im Winter 2022/2023.

Die Industrie schlägt hingegen Alarm. Ein sofortiges Gas-Embargo würde vor allem den Chemie-Sektor treffen. BASF-Chef Martin Brudermüller warnte, ein Stopp oder längerer Ausfall „könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen“. Die BASF verwendet in Europa etwa 60 Prozent des Erdgases für die Erzeugung von Energie (Dampf und Strom). Rund 40 Prozent werden als Rohstoff genutzt, um wichtige Grundchemikalien herzustellen. Diese kommen in vielen Branchen zum Einsatz – wie etwa Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik/Hygiene, Bauwesen, Verpackung (Lebensmittelvertrieb), Pharma oder Elektronik.

Könnte ein sofortiger Gas-Stopp Völkermord verhindern?

Diese Frage kann allein Putin beantworten. Nur er weiß, wie hoch der Leidensdruck für die russische Wirtschaft sein muss, bis er den Krieg beendet. Der Bonner Ökonom Moritz Schularick glaubt an den Hebel des wirtschaftlichen Drucks: „Russlands Staatshaushalt hängt zu 40 Prozent an Einnahmen aus dem Energie-Verkauf. Es ist unstrittig unter Fachleuten, dass diese Einnahmen das Rückgrat der russischen Wirtschaft und des Systems Putin sind.“ Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer sieht das anders: „Ich kenne aus der Geschichte kein Beispiel von Sanktionen, die einen Krieg umgehend gestoppt hätten.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de