Kiew. Kritik an Deutschland und Kampfansagen an Russland: Der frühere Boxweltmweister gewinnt in der Ukraine-Krise an politischer Statur.

Die Nummer mit den Schutzhelmen lockt Vitali Klitschko endgültig aus der Deckung. „Was will Deutschland als Nächstes schicken? Kopfkissen?“, fragt der ehemalige Boxweltmeister. Es ist ein Satz wie ein rechter Haken gegen das Kinn des Bundeskanzlers.

Denn Olaf Scholz (SPD) und seine Regierung weigern sich seit Wochen, der Ukraine Militärhilfe zu leisten. Durch den Aufmarsch Zehntausender russischer Soldaten in Grenznähe sieht sich die Ukraine jedoch in ihrer nackten Existenz bedroht.

„Wir haben keine Wahl! Wir müssen kämpfen!“, sagt Klitschko, der seit 2014 Bürgermeister in Kiew ist. Doch dafür bräuchten die Ukrainer Waffen. Zur Selbstverteidigung, wie Klitschko es immer wieder beschwört.

Kritisiert deutsche Helmlieferungen: Kiews Bürgermeister und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko.
Kritisiert deutsche Helmlieferungen: Kiews Bürgermeister und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko. © picture alliance / Photoshot | picture alliance / Photoshot

Der zwei Meter große und gut zwei Zentner schwere Ex-Boxer hat keinerlei Zweifel, dass der russische Präsident Wladimir Putin „ein Imperium wiedererrichten will wie einst die Sowjetunion“. Wegducken helfe da nicht. Genauso verhalten sich aber die Deutschen – zumindest sieht es Klitschko so.

Klitschko über die deutschen Helmlieferungen: „Absoluter Witz!“

Tatsächlich liefern andere Nato-Staaten längst Waffen: Luftabwehrraketen, Panzerfäuste, Drohnen. Die Briten machen mit, die Türken und die US-Amerikaner sowieso. Selbst kleine Staaten wie Dänemark und Estland sind zur Militärhilfe bereit. Nur Deutschland nicht. 5000 Helme für die ukrainische Armee sind das Höchste der Gefühle. Für ­Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ist das „ein deutliches Signal“ Richtung Kiew: „Wir stehen an eurer Seite.“ Doch das Signal kommt nicht an. Im Gegenteil.

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Klitschko ist anfangs „nur sprachlos“, als er das mit den Helmen hört. Dann entflammt sein Zorn: „Das ist doch ein absoluter Witz!“ Es muss sich für den Mann, den sie im Ring „Dr. Eisenfaust“ nannten, anfühlen, als wollte ihm jemand Wattebäuschchen in die Hand drücken. Soll er damit wirklich gegen Putins Soldaten kämpfen? Die Lage ist aus Klitschkos Sicht viel zu ernst für Halbherzigkeiten.

Gerade erst hat er, der Bürgermeister, einen Plan veröffentlicht, wo die Menschen in Kiew Schutz vor russischen Bombenangriffen finden können. Die U-Bahn-Stationen, die wegen des feucht-sandigen Bodens bis zu 100 Meter unter der Erde liegen, sollen als Bunker dienen. Klitschko hat ­alte Sirenen reaktivieren und neue aufstellen lassen. „Ein grauenhaftes Szenario“, findet er. Aber: „Wir wollen nicht zurück in die UdSSR.“

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50 Jahre ist Klitschko inzwischen alt. Die Haare ergrauen, die Muskelmasse schwindet. Zumal ihm in diesen Winterwochen wenig Zeit bleibt, gegen das Alter anzutrainieren. Politisch jedoch scheint Klitschko in der Krise zu wachsen.

Klitschko war am Anfang seiner politischen Karriere unbeliebt

Es wirkt, als wäre er in einen Jungbrunnen gestiegen und würde endlich so kämpfen, wie sich das seine Landsleute immer gewünscht haben. Nicht mit dem Kopf des promovierten Sportwissenschaftlers, sondern mit dem Herzen des Boxers.

Denn zur Wahrheit von Klitschkos ukrainischer Vergangenheit gehört auch, dass der Champion den Menschen zwischen Lwiw im Westen und Charkiw im Osten immer irgendwie fremd geblieben ist. Vielleicht auch, weil er sich einem Hamburger Boxstall anschloss und ständig in Deutschland war. In jenem Land, auf dessen Solidarität sie in der Ukraine so sehr hoffen.

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Klitschko hat die Vorbehalte gegen ihn nie verstanden. Er sieht sich als Ukrainer, der sein Land vertritt und es im besten Fall populärer und stärker macht. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Schwergewichtsweltmeister schlägt er sich 2004 auf die Seite der prowestlichen Revolution in Orange. Zwei Jahre später kandidiert er zum ersten Mal für das Bürgermeisteramt in Kiew. Trotz seiner Popularität verliert er. Die Hauptstädter trauen dem Superstar das Amt nicht zu.

2010 gründet er die Reformpartei Udar (Schlag). Bei der folgenden Parlamentswahl reicht es nur für 14 Prozent. Dennoch kündigt er seine Kandidatur für das Präsidentenamt an. Bei den Massenprotesten auf dem Kiewer Maidan 2014 übernimmt er eine Führungsrolle: „Dies ist mein härtester Kampf“, sagt er damals.

Bündnis mit Ex-Präsident Poroschenko

Am Ende gewinnt zwar die Revolution. Der korrupte prorussische Präsident Wiktor Janukowitsch flieht. Klitschko aber verliert ebenfalls. Die Menschen pfeifen ihn aus, weil er einem Kompromiss mit dem Kreml zustimmt – auch auf Anraten aus Deutschland.

Doch der Boxer steht wieder auf. Durch ein Bündnis mit Petro Poroschenko gelingt es Klitschko, das Kiewer Bürgermeisteramt zu erobern. Und er gewinnt an Zustimmung. Im November 2020 wird er mit absoluter Mehrheit im Amt bestätigt – obwohl sich der neue Präsident Wolodymyr Selenskyj gegen ihn stellt.

Vielleicht ist es dieser Sieg, der Klitschko nun Kraft gibt. Ein gutes Jahr später jedenfalls ist er „zurück auf der Straße“. Bereit zum Existenzkampf gegen Putins Armee. Und zur Konfrontation mit den Freunden in Deutschland, auf deren Helme er im Zweifel auch verzichten würde.