Berlin. Klimabeauftragte Jennifer Morgan im Gespräch darüber, wer versucht, Klimaschutz zu verhindern, und wie weit friedlicher Protest geht.

Das Gespräch mit Jennifer Morgan findet an einem Tag statt, an dem in Deutschland Temperaturrekorde fallen. Der Sommer zeigt, welche Folgen die Klimakrise auch hier hat. Umso mehr Grund, jetzt Druck zu machen – auch auf der Straße, sagt die Sonderbeauftragte der Bundesregierung für internationale Klimapolitik und frühere Greenpeace-Chefin.

Frau Morgan, vor gut einem halben Jahr haben Sie nach der Weltklimakonferenz in Glasgow gesagt, das 1,5 Grad-Ziel sei gerade noch am Leben. Wie ist Ihre Diagnose heute?

Jennifer Morgan: Noch dieselbe. Was in den nächsten Wochen und Monaten passiert, wird entscheidend sein. Die Wissenschaft sagt uns, dass es noch möglich ist das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Aber dafür brauchen wir weltweit heftige jährliche Emissionsminderungen, am besten sofort. Deswegen haben wir uns für eine aktive nationale Klimapolitik entschieden und unsere Klimaaußenpolitik neu aufgestellt.

Wohin genau schauen Sie da in den nächsten Wochen und Monaten?

Morgan: Wir sind jetzt an einem Scheideweg. Der schreckliche russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat in Deutschland und der EU einerseits eine Beschleunigung der Energiewende angestoßen. Aber es gibt viele Akteure, die diesen Moment ausnutzen wollen, um langfristig fossile Infrastrukturen aufzubauen. Das müssen wir verhindern. Wie der Kanzler gesagt hat: Wir können uns keine fossile Renaissance erlauben.

Wer will diesen Moment denn ausnutzen?

Morgan: Viele Öl- und Gasunternehmen. Das Signal aus Glasgow war sehr klar. Wir müssen raus aus den fossilen Energien, sofort. Aber seit Beginn des Kriegs versuchen Öl- und Gasfirmen, die Tür für die fossilen Energieträger wieder aufzustoßen.

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Wie weit hat der Krieg den Klimaschutz zurückgeworfen?

Morgan: Der Krieg lenkt Aufmerksamkeit weg vom Kampf gegen die Klimakrise. Das ist aber keine Entweder-Oder-Frage. Die Klimakrise passiert hier und jetzt, und unsere Ziele sind klar: Klimaneutralität bis 2045, Kohleausstieg bis 2030. Das gilt. Die LNG-Verträge, die jetzt geschlossen werden, dürfen das nicht in Frage stellen. Und wo LNG-Verträge geschlossen werden, müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass wir so schnell wie möglich auf grünen Wasserstoff wechseln können.

Der Petersberger Klimadialog sollte neuen Schwung bringen für den internationalen Klimaschutz. Ist das gelungen?

Morgan: Ich glaube, ja. Ein großes Ziel dieses Treffens war es, wieder Vertrauen aufzubauen zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern. Ich glaube, die vulnerabelsten Länder haben verstanden, dass wir ihre Sorgen gehört haben und bereit sind, mit ihnen zusammen zu arbeiten, um Lösungen zu finden. Kein Land hat das 1,5Grad-Ziel in Frage gestellt, alle sind sehr entschlossen, gemeinsam voranzugehen. Das war sehr wichtig. Aber jetzt müssen alle handeln.

Nichtregierungsorganisationen haben kritisiert, dass es keine konkreten neuen Zusagen des Bundeskanzlers gab. Haben Sie sich mehr erhofft von Olaf Scholz?

Morgan: Der Bundeskanzler hat klar gemacht, dass Klimaschutz und Wohlstand zusammengehören. Und dass wir solidarisch sind mit den Entwicklungsländern. Bis 2025 wollen wir daher mindestens sechs Milliarden Euro für die globale Klimafinanzierung bereitstellen. Das war eine sehr ehrliche Rede des Bundeskanzlers, eine, die Vertrauen aufgebaut hat.

Diese sechs Milliarden aus Deutschland sind Teil eines 100-Milliarden-Versprechens der Industrieländer, das schon 2020 hätte erfüllt sein sollen…

Morgan: Das stimmt, die 100 Milliarden hätten längst da sein sollen. Deutschland hat seinen Beitrag immer geleistet, weil wir wissen, dass viele Länder das Geld dringend brauchen. Nächstes Jahr muss dieses Ziel erreicht sein. Aber es geht nicht nur um die 100 Milliarden. Es geht um Billionen. Wir müssen das gesamte Finanzsystem transformieren und den Zugang zur Klimafinanzierung für weniger entwickelte Staaten vereinfachen.

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    Tut Deutschland genug?

    Morgan: Kein Land tut genug. Dennoch versuchen wir, unseren Beitrag zu leisten. Und das wird auch anerkannt. Dass unsere nationalen Ziele gesetzlich festgeschrieben sind und wir die Energiewende vorantreiben, gibt uns international Glaubwürdigkeit. Meine Wahrnehmung aus meinen Reisen in den letzten Monaten ist, dass wir sehr respektiert sind, auch weil wir unsere Partner auf Augenhöhe sehen. Deutschland ist sehr bescheiden, was seinen Beitrag im Kampf gegen die Klimakrise angeht. Wir könnten ein bisschen stolzer sein und ein bisschen mehr erzählen, was wir tun. Aber wir sind in einer rapide voranschreitenden Klimakrise. Niemand kann sich zufrieden zurücklehnen, wir alle müssen nach Wegen suchen, noch mehr zu tun.

    Russland ist der viertgrößte Emittent weltweit. Wie geht man bei Klimaverhandlungen jetzt mit dem Land um?

    Morgan: Im Moment ist ein konstruktiver Austausch mit Russland nicht möglich. Bis wir Frieden in der Ukraine haben, wird das so bleiben. Vielleicht erkennt Russland durch die Beschleunigung der Energiewende ja selbst, dass die Zukunft nicht fossil ist.

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    Sie haben jahrelang als Aktivistin Regierungen vor sich hergetrieben, Druck gemacht für Klimaschutz. Jetzt kennen Sie die andere Seite. Kann man so viel bewegen, wie Sie gehofft hatten?

    Morgan: Ich sehe keine Seiten, ich sehe Ziele. Die Ziele, für die ich mein ganzes Leben gekämpft habe – das 1,5 Grad-Ziel, Solidarität mit Entwicklungsländern – sind auch die Ziele dieser Bundesregierung. Deshalb war ich bereit, diese Position anzunehmen. Die Hebel der Bundesregierung sind zwar andere als in NGOs, aber ich kann in diesem Amt viel bewegen. Ich frage mich jeden Tag: Wie können wir den größten Unterschied machen? Das ist dieselbe Frage, die ich mir bei Greenpeace gestellt habe.

    Wie viel Selbstkontrolle kostet es Sie, nicht öffentlich zu reagieren, wenn ein Tankrabatt umgesetzt wird? Oder eine Erhöhung der Pendlerpauschale vorgeschlagen?

    Morgan: (lacht) Es gibt immer mal Streit in einer Koalition. Man muss Kompromisse machen, und manchmal sind die sehr hart. Aber ich sehe, wie wir vorankommen. Das ist das Wichtige. Das gibt mir Hoffnung.

    Das macht solche Kompromisse erträglich?

    Morgan: Ich sehe vor allem die Chancen. Die Ziele sind klar.

    Können Sie verstehen, dass sich junge Leute an Autobahnen festkleben, weil sie Angst haben vor der Klimakrise?

    Morgan: Ich kann die Angst sehr gut verstehen. Ich habe auch Angst, und ich bin nicht 14 oder 20 und sehe eine instabile Zukunft vor mir. Wir haben viel zu spät gehandelt. Schon 1965 lag ein Bericht über den Klimawandel auf dem Tisch des US-Präsidenten. Und die Welt hat nicht reagiert. Es ist wichtig, den Druck aufrechtzuerhalten. Wir müssen auf allen Ebenen für mehr Klimaschutz arbeiten.

    Würden Sie auch auf Autobahnen kleben, wenn Sie heute noch einmal 20 wären?

    Morgan: Ich weiß nicht, ob das meine Art wäre zu protestieren. Ich habe viel demonstriert, und ich verstehe die friedlichen Aktionen, mit denen Jugendliche protestieren, sehr gut. Sie werden mit den Konsequenzen leben müssen.

    Es gibt Teile der Klimabewegung, die unter dem Schlagwort „friedliche Sabotage“ auch Sachbeschädigung als legitim betrachten. Wie weit geht friedlicher Protest?

    Morgan: Ich persönlich glaube, man muss die Menschen mitnehmen auf dem Weg zu Lösungen. Es ist wichtig, dass man sich engagiert. Auf welche Art, muss jeder für sich selbst entscheiden.

    Man kann sich also auch für Sachbeschädigung entscheiden?

    Morgan: Es gibt ganz verschiedene Formen von Aktivismus. Welche Aktionsform die richtige ist, wird heftig diskutiert. Ganz klar ist dabei: Es gibt Gesetze, und diese Gesetze gelten für alle.

    Die EU-Kommission hat einen Notfallplan vorgestellt, um Europa für ein Worst Case Szenario bei der Gaslieferung vorzubereiten. Kann sich die EU mit diesem Plan bei den Mitgliedsstaaten durchsetzen?

    Morgan: Wir begrüßen alle Aktionen, die uns unabhängiger von fossilen Energien machen und auf die Klimakrise aufmerksam machen. Die Dringlichkeit der Situation ist sehr deutlich. Ich glaube, dass alle EU Mitgliedsstaaten die Krise sehr ernst nehmen und verstanden haben, dass wir handeln müssen, bevor es zu spät ist. Den Vorschlag der EU-Kommission prüfen wir.

    Die Kommission hat auch erwähnt, dass es die Möglichkeit gäbe, die Atomenergie zu verlängern. Wäre das auch eine Notlösung für Deutschland?

    Morgan: Wir haben diesen Weg natürlich genau geprüft und uns mit den Fakten beschäftigt. Die Atomkraftwerke werden das Problem der Gasversorgung nicht lösen, weil sie weder Wärme liefern noch Gaskraftwerke bei der Spitzenlast ersetzten können. Unabhängig von der aktuellen Krise ist die Atomenergie auch keine langfristige Lösung. Die Zeit, die benötigt wird, um neue AKWs zu bauen, haben wir in der aktuellen Klimakrise einfach nicht, und es wäre auch viel zu teuer. Deutschland sollte also beim Atomausstieg bleiben und sich auf die erneuerbaren Energien und Energieeffizienz konzentrieren.

    Schaffen wir es, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen?

    Morgan: Noch, ja.

    Dieser Text erschien zuerst auf waz.de