Berlin. Die Verteidigungsministerin über die ukrainische Offensive, deutsche Waffenlieferungen – und was der Krieg für die Wehrpflicht bedeutet.

Die Welt schaut auf Deutschland: Warum ist die Bundesregierung so zögerlich bei den Waffenlieferungen an die Ukraine? Gibt es einen tieferen Grund? Im Interview mit unserer Redaktion sagt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) offen, was sie umtreibt.

Frau Lambrecht, wollen Sie, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?

Christine Lambrecht: Ich will die Ukraine in ihrem mutigen Kampf unterstützen. Wir machen alles möglich, was wir können: Wir liefern Waffen aus den Beständen der Bundeswehr, aus der Industrie und über den Ringtausch. Es darf nicht sein, dass Putin diesen brutalen Angriffskrieg gewinnt.

Weshalb liefert Deutschland weder Kampf- noch Schützenpanzer?

Lambrecht: Wir liefern den Mehrfachraketenwerfer Mars II, die Panzerhaubitze 2000, den Lenkflugkörper Iris-T, den Gepard, Millionen Schuss Munition und große Mengen anderes Gerät - und diese Hilfe wird weitergehen. Dabei stimmen wir uns immer mit unseren Verbündeten ab. Es ist wichtig, dass die Ukraine mit dem Gerät, das sie bekommt, schnell und ohne lange Ausbildung kämpfen kann. Deswegen machen wir den Ringtausch mit Tschechien, der Slowakei und jetzt auch mit Griechenland. Dadurch entstehen Lücken bei den Ländern, die Panzer sowjetischer Bauart an die Ukraine abgeben. Wir helfen, diese Lücken zu schließen.

Die Ukraine ist auf dem Schlachtfeld in der Offensive. Viele rätseln, warum Deutschland sich immer noch weigert, den Kampfpanzer Leopard 2 und den Schützenpanzer Marder bereitzustellen.

Lambrecht: Wir wollen keinen deutschen Alleingang und wir werden solche Entscheidungen immer in Abstimmung mit unseren Partnern treffen. Bisher hat auch noch kein anderes Land Schützen- oder Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert.

Sie sprechen von Alleingang, andere von Führung. Die amerikanische Botschafterin in Berlin, Amy Gutmann, hat eine „größere Führungsrolle“ der Deutschen angemahnt. Warum verstecken Sie sich hinter den Verbündeten?

Lambrecht: Es ist wichtig, dass wir gemeinsam mit den Verbündeten handeln. Auch die Amerikaner liefern keine Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart. Kein westlicher Partner tut dies.

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Fürchten Sie, fürchtet der Kanzler, dass Putin Deutschland angreift, wenn wir der Ukraine mit Kampfpanzern helfen?

Furcht ist ganz bestimmt kein guter Berater in solchen Zeiten. Weder Olaf Scholz noch ich sind furchtgeleitet. Es geht um Besonnenheit. Genauso agieren wir.

Halten Sie es für möglich, dass Putin Deutschland angreift?

Lambrecht: Ich glaube nicht, dass es einen Automatismus gibt. Aber ich muss auch sagen: Bis zum 24. Februar haben sich auch viele nicht vorstellen können, dass Putin tatsächlich die Ukraine angreift.

Teilen Sie die Skepsis Ihres Generalinspekteurs Eberhard Zorn, was die Erfolgsaussichten des ukrainischen Gegenangriffs angeht?

Lambrecht: Die Erfolge, die die Ukraine erkämpft hat, sind sehr beeindruckend und ermutigend, das kann und darf man nicht kleinreden. Aber zurückgeschlagen sind die russischen Truppen noch lange nicht. Das hat der Generalinspekteur deutlich gemacht und diese Einschätzung teile ich.

Der Generalinspekteur hat auch davor gewarnt, dass Russland in Europa einen weiteren Krieg beginnen könnte. ‚Kaliningrad, die Ostsee, die finnische Grenze, Georgien, Moldau … es gibt viele Möglichkeiten’, sagte er wörtlich. ‚Die Fähigkeiten hätte Putin.‘ Stimmen Sie zu?

Lambrecht: Ich stimme zu, dass Putin unberechenbar ist. Putin hat einen Nachbarn überfallen und die territoriale Integrität weiterer Staaten infrage gestellt. Wir haben erleben müssen, dass furchtbare Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Vor dem Hintergrund schließe ich nicht aus, dass Putin noch andere Schritte geht. Wir haben keine konkreten Anzeichen dafür, aber er ist bereits einen Weg gegangen, den wir uns auch nicht hätten vorstellen können.

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In der Ukraine sind wieder Massengräber gefunden worden. Opfer weisen Folterspuren auf. Werden die Täter zur Rechenschaft gezogen?

Lambrecht: Diese furchtbaren Verbrechen müssen unbedingt aufgeklärt werden – am besten von den Vereinten Nationen. Sie sollten schnellstmöglich Zugang bekommen, um Beweise zu sichern. Die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen müssen vor Gericht gestellt werden.

Wenn Putin alles zuzutrauen ist – könnte die Bundeswehr unser Land verteidigen?

Lambrecht: Gemeinsam mit unseren Verbündeten sind wir in der Lage, die Landes- und Bündnisverteidigung zu gewährleisten. Das ist allerdings eine Riesenherausforderung - so, wie wir nach den Einsparungen der letzten Jahre aufgestellt sind. Die Bundeswehr ist und war stets eine Bündnisarmee. Und das Bündnis muss sich auf unsere Zusagen verlassen können.

Eine russische Iskander-Rakete, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann, braucht von Kaliningrad nach Berlin wenige Minuten. Was macht die Landesverteidigung?

Lambrecht: Wir sind ausgestattet mit Patriot-Abwehrraketen, aber wir haben Lücken in der Luftverteidigung, die wir schließen müssen. Das israelische Flugabwehrsystem Arrow 3 kommt dafür infrage. Aber auch da machen wir keinen Alleingang, sondern streben eine europäische Luftverteidigung innerhalb der NATO an.

Reichen 100 Milliarden Euro Sondervermögen, um die Lücken zu schließen?

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD).
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Lambrecht: Die 100 Milliarden sind sehr viel im Vergleich zu dem, was alle meine Vorgänger zur Verfügung hatten. Darüber hinaus haben wir den Verteidigungshaushalt, der jährlich 50 Milliarden umfasst. Landes- und Bündnisverteidigung haben ihren Preis, der sich auch im Haushalt niederschlagen muss. Ich erwarte, dass der Wehretat kontinuierlich anwächst.

Auf 70 Milliarden? Oder mehr?

Lambrecht: Wir haben jetzt das Sondervermögen, mit dem wir uns sehr vielen Herausforderungen stellen können. Aber das darf nicht abreißen, wenn die 100 Milliarden ausgegeben sind. Die Investitionen in die Bundeswehr dürfen kein Strohfeuer sein. Es geht ja nicht nur um Anschaffung, sondern auch um Instandhaltung und Ausbildung. Das muss kontinuierlich gewährleistet sein.

Eine Größenordnung, bitte.

Lambrecht:Wir müssen auf jeden Fall das Nato-Ziel erreichen, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Das wird in diesem und wahrscheinlich auch im nächsten Jahr noch nicht möglich sein, weil die Industrie nicht so schnell liefern kann. Aber wir müssen im Blick behalten, was die Zielmarke ist.

Wie lange dauert es, bis das Flugabwehrsystem Arrow 3 eine Iskander-Rakete aus Kaliningrad abfangen kann?

Lambrecht: So ein Verteidigungssystem kann man nicht von heute auf morgen beschaffen und einsatzfähig machen. Ja, diese Lücke ist sehr gefährlich. Aber wenn wir uns heute nicht dranmachen, sie zu schließen, dauert es noch länger.

Wann wird Arrow 3 also einsatzfähig sein??

Lambrecht: Sollten wir uns für das System entscheiden und jetzt sofort Verträge abschließen und sollte die Industrie dann auch umgehend liefern können, dann könnten wir im Idealfall nächstes Jahr mit der Ausbildung anfangen. Das bedeutet, das Flugabwehrsystem kann unter optimalen Bedingungen frühestens 2025 in Betrieb genommen werden.

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Können wir uns auf den Beistand der USA verlassen, bis wir uns selbst verteidigen können?

Lambrecht: Das können wir ohne Wenn und Aber! Gleichzeitig müssen wir aber erkennen, dass die USA auch einen Blick auf den Indopazifik richten und sich über die Situation dort große Sorgen machen. Sie erwarten von uns Europäern, dass wir mehr für unsere eigene Verteidigung tun, um sie damit zu entlasten.

Was gilt, wenn Donald Trump wieder zum Präsidenten gewählt wird?

Lambrecht: Wir haben gemeinsam deutlich gemacht, dass die Nato ein sehr starkes und verlässliches Bündnis ist. In den USA wird respektiert, dass Deutschland sehr viel mehr in Verteidigung investiert. Auch in der Partei von Donald Trump ist angekommen, dass wir es ernst meinen.

Die Wehrpflicht in Deutschland ist ausgesetzt. Kann es dabei bleiben angesichts der neuen Bedrohungslage?

Lambrecht: Eine Wehrpflicht-Debatte hilft uns wenig in der aktuellen Situation. Es dauert seine Zeit, Soldatinnen und Soldaten auszubilden – unter einem Jahr macht das wenig Sinn. Und die Frage der Wehrgerechtigkeit, die das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat, lässt sich nicht so einfach beantworten. Die Wehrpflicht müsste auch Frauen umfassen und dürfte am Ende nicht nur jeden Vierten in einem Jahrgang betreffen. Hinzu kommt: Wir haben weder genügend Kasernen, Ausbilder noch das Gerät für Zehntausende Wehrpflichtige.

Wie denken Sie über eine allgemeine Dienstpflicht für junge Leute?

Lambrecht: Ich sehe einen Pflichtdienst sehr skeptisch. Junge Menschen zeigen bereits ein unheimlich tolles Engagement: in Sportvereinen, beim Technischen Hilfswerk, den Feuerwehren, dem Roten Kreuz und übrigens auch in der Bundeswehr mit dem freiwilligen Wehrdienst. Wir sollten mehr und noch attraktivere Angebote machen für freiwilliges Engagement. Eine Dienstpflicht wäre da aus meiner Sicht eher schädlich.