Berlin. Die aktuelle Infektionswelle verschärft die Engpässe bei Medikamenten. Nicht nur in den Apotheken, auch in den Kliniken wird es knapp.

Knapp zehn Millionen Deutsche leiden akut an Atemwegserkrankungen – vor allem in Kitas und Schulen folgt eine Infektionswelle auf die andere. Doch wer in diesen Tagen Hustensaft und Fiebersenker kaufen will, bekommt oft nicht, was er haben möchte: leere Regale, verunsicherte Eltern, ratlose Apotheker. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sicherte am Donnerstag der Kindermedizin schnelle Unterstützung zu. Denn: Es fehlt nicht nur an Medikamenten, sondern auch an freien Terminen beim Kinderarzt und freien Betten in den Krankenhäusern.

„Wir werden es nicht zulassen, dass die Kinder, die in der Pandemie so viel aufgegeben haben, jetzt nicht die Versorgung bekommen, die sie brauchen“, sagte der SPD-Politiker. Kinderarztpraxen sollen besser honoriert werden, in den Kinderkliniken sollen zusätzliche Honorarkräfte kurzfristig das Pflegepersonal entlasten.

Lesen Sie auch: Corona, Kinderkliniken und Co: Wo sich Karl Lauterbach irrte

Kinderkliniken: Lauterbach zur Not auch Eingriffe bei Erwachsenen verschieben

Lauterbach schloss nicht aus, dass in einem nächsten Schritt notfalls planbare Eingriffe für Erwachsene verschoben werden könnten. In der kommenden Woche sollen zudem Maßnahmen gegen Lieferengpässe bei Medikamenten auf den Weg gebracht werden. „Wir sind auch in diesem Bereich mit der Ökonomisierung zu weit gegangen“, so Lauterbach.

Lesen Sie auch: Kliniken warnen vor wachsenden Medikamenten-Engpässen

Apotheken und Kliniken fehlen derzeit neben Fiebersäften auch Schmerzmittel und Antibiotika, immer wieder gibt es Mangellagen auch bei Magensäureblockern, Blutdruckmitteln und Medikamenten für die Krebstherapie. Die Lage sei gerade in vielen Fällen sehr dramatisch, sagte der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis, am Donnerstag im Deutschlandfunk. Er und viele seiner Kollegen seien inzwischen seit 30 Jahren im Beruf und hätten so etwas noch nie erlebt. Man gehe von über 1000 Medikamenten aus, die derzeit fehlten.

Hintergrund: Kinderärzte am Limit: Was Eltern im Notfall jetzt tun können

Engpässe bei Arzneimitteln: Es gibt viele Gründe für den Mangel

Als Gründe für den Mangel gelten neben der großen Nachfrage aufgrund der aktuellen Infektionswelle vor allem Lieferkettenprobleme. Die Apotheker warnen seit Langem vor den Folgen der Verlagerung von Produktionsstätten außerhalb Europas, vor allem nach Indien und China. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) begründet die angespannte Lage mit enormem Kostendruck. Um Geld zu sparen, setzten Hersteller auf eine Produktion in Asien. Fallen Chargen aus oder Transporte verspäteten sich, habe das Folgen für das hiesige Angebot. Es gibt aber auch andere Gründe für den akuten Mangel: Das Fieber- und Schmerzmittel Paracetamol komme aktuell vor allem wegen Streiks in Frankreich nicht in ausreichender Menge auf den deutschen Markt, heißt es im Gesundheitsministerium.

Gegen die Lieferengpässe will Lauterbach Änderungen beim Vergaberecht durchsetzen: Das Ziel sei es, Lieferketten breiter anzulegen, damit die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern abnimmt. Und: Die Krankenkassen sollten nicht länger gezwungen sein, Medikamente und Wirkstoffe dort einzukaufen, wo sie am billigsten sind. Es könne nicht sein, dass versucht werde, bei den Wirkstoffen zum Teil ein paar Cent zu sparen und damit die Versorgung der Bevölkerung zu riskieren. Vielen Kritikern reicht das nicht: Der Kinderärzteverband fordert von Lauterbach eine „Beschaffungsaktion“ wie zu Beginn der Corona-Pandemie, die Union verlangt noch vor Jahresende einen „Beschaffungsgipfel von Bund und Ländern“.

Krankenhäuser schlagen Alarm: Engpässe bei Notfallmedikamenten

Die deutschen Krankenhäuser warnen ebenfalls vor wachsenden Engpässen bei wichtigen Medikamenten – etwa Antibiotika, Krebsmedikamenten und Notfallpräparaten für Infarkt- und Schlaganfallpatienten: „Zunehmend verursachen Lieferengpässe große Probleme – auch im Krankenhaus“, sagte Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), unserer Redaktion. 40 Prozent der Lieferengpässe, die dem Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) im 3. Quartal 2022 gemeldet worden seien, beträfen die Kliniken.

Hintergrund: Krankenhäuser: Lauterbach plant die Revolution von oben

Die größte Herausforderung stellten Lieferengpässe bei Notfallmedikamenten dar, wie seit April dieses Jahres beim Wirkstoff Alteplase. Dieser werde als lebensrettende Maßnahme zum Beispiel nach Herzinfarkt und Schlaganfällen eingesetzt, Alternativen seien rar oder fehlten ganz. Sehr problematisch seien in der derzeitigen Welle von Atemwegserkrankungen aber auch fehlende Mittel wie beispielsweise das Breitband-Antibiotikum Amoxicillin.

Kliniken: Probleme mit Antibiotika, Krebsmedikamenten und Fiebersenkern

In diesem Jahr seien viele Arzneimittel betroffen, die zur Basisversorgung zählten, wie zum Beispiel gewöhnliche Antibiotika oder Medikamente, die für die Krebstherapie existenziell seien. „Im Moment haben wir Probleme bei paracetamol- und ibuprofenhaltigen Fiebersäften für Kinder.“ Das betreffe nicht nur die niedergelassenen Ärzte, sondern auch die Krankenhäuser und hier besonders die extrem belasteten Kinderstationen, so Gaß.

„Wir müssen auf jeden Fall Wege finden, um auch in der Arzneimittelversorgung eine größere Unabhängigkeit des europäischen Kontinents zu gewinnen“, forderte Gaß. „Das Diktat des Einsparens um jeden Preis muss enden, denn es gefährdet die Versorgung.“ Für die Kliniken kämen zu den Problemen bei Medikamenten auch Lieferprobleme bei Medizinprodukten, wobei auch hier wiederum Kinder in besonderem Maße betroffen seien: „Insbesondere Kinderkardiologen sowie medizinische Fachgesellschaften schlagen diesbezüglich bereits Alarm, da die kleinen Patienten nicht mehr adäquat versorgt werden können.“