Berlin. Die Bundeskanzlerin wurde in der Türkei als „Freundin“ empfangen. Weil Merkel und Erdogan aufeinander angewiesen sind – mehr denn je.

In den deutsch-türkischen Beziehungen ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Beim Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag in Istanbul war wenig von Schärfe und viel von Kooperation zu spüren. Erdogan bezeichnete Merkel als „geschätzte Freundin“ – ein ungewohnter Zungenschlag. Die Kanzlerin revanchierte sich mit einem breit gefächerten Angebot der Zusammenarbeit. Auf den Konferenz­tischen lag der Samthandschuh.

Es ist ein Quantensprung im beidseitigen Verhältnis, wenn man nur wenige Jahre zurückdenkt. Es begann im März 2016 mit einem „Schmähgedicht“ des deutschen Fernsehsatirikers Jan Böhmermann gegen Erdogan. Eine Welle der Empörung schwappte über die Türkei, als der Bundestag im Juni 2016 die vom Osmanischen Reich an den Armeniern begangenen Verbrechen als Völkermord bezeichnete. Nach der massiven Verhaftungswelle im Zuge des gescheiterten Putschversuchs im Juli 2016 hagelte es aus Deutschland heftige Kritik. Erdogan sah rot und überhäufte die Kanzlerin mit Nazi-Vergleichen.

Diese Phase der Befindlichkeiten, Kränkungen und des Überschwangs an Wut ist heute vorbei. Die geopolitische Lage mit ihren zahlreichen Konflikten zeigt, dass alles mit allem zusammenhängt. Merkel und Erdogan brauchen einander.

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Merkel ist vor allem bei der Flüchtlingspolitik auf Erdogan angewiesen

Vor allem bei der Flüchtlingspolitik ist die Kanzlerin auf den türkischen Präsidenten angewiesen. Macht dieser „die Tore auf“ – wie er mehrfach angedroht hatte –, hat Merkel ein Problem. Die Mehrzahl der Migranten zieht es nach Deutschland. Deshalb hat die Kanzlerin in Istanbul die immense Leistung Ankaras bei der Versorgung von rund vier Millionen Flüchtlingen hervorgehoben.

Und sie hat ein umfangreiches Hilfspaket in Aussicht gestellt. So denke Deutschland an die humanitäre Unterstützung von Menschen, die aus der nordsyrischen Rebellenhochburg Idlib fliehen. Zudem will Merkel in Absprache mit den UN prüfen, ob man Migranten bei der Umsiedlung von der Türkei in die Sicherheitszone nach Nordsyrien unter die Arme greifen könne. Selbst eine Aufstockung der im EU-Türkei-Deal vereinbarten Finanzspritze für Ankara kann sich die Kanzlerin vorstellen. Erdogan benötigt dringend internationale Rückendeckung bei seinem Mammut­projekt: Er will bis zu zwei Millionen Flüchtlinge von der Türkei nach Nordsyrien schicken.

Trotz aller Annäherung bleiben Differenzen

Auch Merkels Signale für einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen wird der Präsident mit Wohlwollen vernommen haben. Die Kanzlerin erwähnte den von Ankara heiß ersehnten Ausbau der Zollunion, verwies dabei aber auf die nötige Zustimmung durch Griechenland und Zypern. Beide Länder sind wegen eines türkisch-libyschen Erdgas-Vorhabens verärgert. Die deutsche Regierungschefin zeigte sich auch deshalb kooperativ, weil sie die Türkei bei der Lösung des Libyen-Konflikts braucht. Das nordafrikanische Land spielt eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung des Flüchtlings­ansturms aus Zentralafrika.

Dies alles ändert nichts an den großen sachlichen Differenzen. Aus deutscher Sicht sind dies vor allem der autokratische Kurs des Präsidenten und der Umgang mit Menschenrechten. Ein reflexhaftes Erdogan-Bashing, mit dem einige in Deutschland auf der innenpolitischen Galerie punkten wollen, hilft aber nicht weiter. Man muss die Dinge beim Namen nennen, ohne öffentlich auf die Moralpauke zu hauen.

Das Treffen in Istanbul gibt Hoffnung – ein bisschen zumindest. Wie weit die neue deutsch-türkische Annäherung wirklich trägt, muss sich aber noch erweisen.