Mykolajiw. Wenn Raketen einschlagen sind die „Soldaten des Feuers“ die Ersten vor Ort. Auf die Brutalität des Alltags waren sie nicht vorbereitet.

Das Gebäude scheint verlassen. Die Fenster der Fassade sind über fünf Stockwerke mit Sperrholzplatten vernagelt, um das Haus gegen die Kälte zu schützen.

„Das war vor ein paar Wochen“, erklärt Wladyslaw mit dem Milchgesicht, der junge Kommandant einer der fünf Feuerwehreinheiten von Mykolajiw, einer Stadt im Süden der Ukraine, dicht an der Front. „Das Geschoss ist ein bisschen weiter weg, da hinten eingeschlagen. Die Druckwelle hat alle Fenster kaputt gemacht, Autos und sogar unseren Feuerwehrwagen herumgeschleudert“. Er zeigt auf ein Loch so groß wie seine Hand, das ein Bombensplitter in die Tür des rot-weißen Fahrzeugs gerissen hat.

Um zu überleben, sind alle Feuerwehrleute, die an diesem Tag Wache hatten, in den Keller geflüchtet.

Ukraine-Krieg: „Für uns ist die Front hier“, sagt der Feuerwehrmann

Als wollten sie sich ihre Mission im Alltag in Erinnerung zu rufen, findet sich auf der dritten Etage überall ihr Motto: Vorbeugen – Retten – Helfen. Fünf Einheiten mit je 50 Mann machen in Mykolajiw eine Arbeit, die sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar jeden Tag mehr von „Soldaten des Feuers“, wie sie sich selbst nennen, in ganz einfache Soldaten verwandelt hat.

„Für uns ist die Front hier“, sagt Wladyslaw. Jeden Tag aus Neue ziehen sie in die Schlacht. Ein furchtbarer Alltag in einer Stadt, die nur noch die Hälfte ihrer 400.000 Einwohner zählt. Und auf den keiner von ihnen vorbereitet war.

Die ganze Nacht versuchten sie, Überlebende aus den Trümmern zu retten

Der letzte Bombenangriff war vor wenigen Nächten, als vier Raketen des Typs S-300 im Stadtzentrum eingeschlagen sind. Die Feuerwehrleute haben bis zum Morgengrauen damit verbracht, an vier verschiedenen Einschlagsorten Überlebende aus den Trümmern zu retten. Am frühen Morgen waren sie immer noch nicht fertig.

„Die Russen schießen ziemlich regelmäßig. Die S-300 immer in Vierergruppen. Wenn du eine hörst, weißt du, dass noch drei andere kommen. Danach ist es wie beim Lotto…“, versucht Anatolij, dessen Gesicht kantiger ist, zu scherzen. Anfang März, kurz nachdem Russland gegen Krieg in die Ukraine begonnen hatte, wurde ihr ehemaliger Stützpunkt von einer Rakete getroffen. „Alle haben geschlafen, Soldaten und Feuerwehrleute. Es war ein Massaker“, seufzt er und verstummt, weil die Erinnerung furchtbar ist. Die Zahl der Toten durch diesen Angriff wird von der Regierung in Kiew bis heute geheim gehalten.

Der Krieg hat viele zu Fatalisten gemacht

In der riesigen Garage stehen sechs abfahrbereite Fahrzeuge nebeneinander. In einer Ecke hängen ihre alten Anzüge an der Wand, als würden sie warten. „Die Montur eines vergangenen Lebens. Sie ist für die heute Situation überhaupt nicht geeignet“, sagt der stellvertretende Kommandant Kostjantyn. „Jetzt müssen wir wegen der Bombensplitter eine kugelsichere Weste und einen schweren Helm tragen.“

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Angesichts des schweren Beschusses in den letzten Wochen sind sie alle zu Fatalisten geworden. Es ist so zur Routine geworden, dass Wladyslaw nur noch die Schultern zuckt.

Danylo ist erst kurz dabei, er kennt nur den Krieg

Ein brutaler Alltag auf den keiner von ihnen vorbereitet war. Das einzig Positive daran ist, dass „wir, weil die Hälfte der Einwohner aus der Stadt geflohen ist, nicht mehr zu Bränden gerufen werden, weil jemand im Bett seine Zigarette nicht ausgedrückt hat“, witzelt Danylo. Er ist der jüngste, quasi ihr Maskottchen. „Er hat am Tag der Invasion angefangen“, erzählt Wladyslaw und zeigt auf ihn. „Er ist ein richtiger Kriegsfeuerwehrmann. Das Leben davor kennt er gar nicht…“.

Wladyslaw, der junge Kommandant einer der fünf Feuerwehreinheiten, zeigt, wo die Bombensplitter ein Loch in die Tür des Fahrzeugs gerissen hat.
Wladyslaw, der junge Kommandant einer der fünf Feuerwehreinheiten, zeigt, wo die Bombensplitter ein Loch in die Tür des Fahrzeugs gerissen hat. © François Thomas

Anatolij gibt zu: „Die Arbeit war auch früher gefährlich“, aber der Krieg habe nochmal eine Schippe draufgelegt. „Daran müssen wir uns anpassen.“ Und er fügt hinzu: „Wir haben keine Zeit, Angst zu haben oder in Panik zu verfallen. Das müssen wir uns für später aufheben. Wir müssen uns um die Leute kümmern, und gleichzeitig kannst du dich nicht davon abhalten, an deine eigene Familie zu denken und dich zu fragen, ob sie in Sicherheit sind und ob zu Hause alles in Ordnung ist.“

Sie versuchen zu scherzen, um Distanz zum Horror zu schaffen

Kostjantyn legt nach. „Du kannst dich nicht davon abhalten, an deine eigenen Kinder zu denken, während du welche aus den Trümmern ziehst. Aber so ist das…“.

Um sich selbst zu schützen, versucht die Truppe, über alles zu scherzen. Wie, um Distanz zu dem Horror zu schaffen, mit dem sie jeden Tag konfrontiert sind. „Aber ich weiß natürlich, dass der Schutzschild mit jeder Ausfahrt nach einem Bombenangriff immer dünner wird“, gesteht Kostjantyn.

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Alle haben sehr genaue Erinnerungen an die letzten Monate. Ein Einsatz, ein Toter, eine Bergung, die schwieriger war als andere.

„Das war der schlimmste Tag in meinem Leben“

Für das Maskottchen Danylo war es „die Zerstörung der Gebäude, in denen sich die gesamte Verwaltung von Mykolajiw befindet“. Die Trümmer waren fast vier Meter hoch. „Wir mussten den ganzen Haufen abtragen. Das war schrecklich, weil wir nach und nach Spuren der Menschen gefunden haben. Erst ist ein Kopf aufgetaucht, dann ein Arm“, Danylo stockt.

„Dann war da ein Mann neben mir. Er trug keine Uniform und hat mitgemacht. Ich habe gespürt, wie angespannt er war.“ Während er Stücke von Beton abtrug, dreht sich Danylo zu ihm um. „Ich habe ihm gesagt, dass er hier nicht bleiben kann, weil die Trümmer zu instabil sind. Dann habe ich verstanden, dass er jemanden unter den Trümmern sucht. Ich fragte, wen denn? Er antwortete: ,meine Tochter’ und deutete den Kopf und den Arm in den Trümmern. An dem Tag ist in meinem Körper etwas zerrissen“, sagt Danylo leise: „Ich glaube, das war der schlimmste Tag in meinem Leben“.

Sie erzählen sich diese Geschichten, wie um sie sich auszutreiben, als eine Art Schutz, wie um dem Tod zuzuzwinkern, wie um zu sagen: „Du kannst uns nichts Schlimmeres antun, als du uns schon angetan hast“.

Viel zu oft sind sie auch Ersthelfer und Psychologen

Anatolij erinnert sich an eine Familie in einem kleinen Dorf nicht weit entfernt von Mykolajiw. „Die Großmutter, die Mutter und der Sohn. Die drei haben jede Nacht im Keller geschlafen. Die Rakete ist bis in die Grundmauern durchgeschlagen. Wir mussten zuerst die beiden Frauen rausholen. Sie hatten ihre Beine verloren, aber der Sohn war durch den Einschlag in Stücke gerissen worden. Wir konnten nur Stücke aufsammeln, menschliche Fetzen. Der Junge war 2007 geboren.“

Oft kommt den Männern von der Feuerwehr eine besondere Bedeutung zu, weil sie als erste eintreffen. „Wir müssen verschiedene Rollen ausfüllen. Ersthelfer, Psychologe, diejenigen, die die Angehörigen informieren“, erklärt Anatolij. „Aber das Schlimmste ist, dass die Familien der Soldaten voller Hoffnung auf sie warten, während wir wissen, was passiert ist.“

Dann lächelt Anatolij wieder. „Die Leute witzeln manchmal und sagen: „Aber ihr Feuerwehrleute schlaft doch die ganze Zeit.“ Was sie nicht verstehen ist, dass nichts Besseres passieren kann. „Wenn wir schlafen, heißt das, dass alles in Ordnung ist und keine Rakete auf die Stadt gefallen ist.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja