Berlin. SPD-Chefin Saskia Esken hat eine Diskussion über Rassismus und Amtsmissbrauch bei Polizisten entfacht. Sie sind aber oft selbst Opfer.

Holger Münch ist überfragt. Polizeigewalt? Solche Fälle finden keinen Eingang in die jährliche Kriminalstatistik. „Die Zahl ist äußerst gering“, es sei auch kein größeres Problem, behauptet der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) bei der Vorstellung der Kriminalstatistik.

Dass die SPD-Vorsitzende Saskia Esken gegenüber unserer Redaktion vor latenten rassistischen Strömen auch bei den deutschen Sicherheitskräften gewarnt und eine zentrale Beschwerdestelle gefordert hat, trifft die Beamten hart. Denn es erschüttert ihr Selbstbild von der Polizei als „Dein Freund und Helfer“.

Polizeigewalt: Gewerkschaft ist über Vergleich brüskiert

Früh am Morgen klingen in der Geschäftsstelle der Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Telefone. Beamte machen ihrer Empörung Luft. Mittags tritt GdP-Vizechef Dietmar Schilff ganz im Sinne seiner Mitglieder auf den Plan.

Es sei richtig und wichtig, die politischen Auseinandersetzungen über Rassismus, Polizeigewalt und Regierungshandeln in den USA auch auf unseren Straßen zu thematisieren. „Es gibt jedoch keinen Anlass, einen Zusammenhang mit der deutschen Polizei zu konstruieren“, meint er.

Schon der Vergleich mit Amerika ist für deutsche Beamte schwer erträglich. Die Ausbildung ihrer amerikanischen Berufskollegen beträgt maximal 32 Wochen. Der Selbstschutz steht im Vordergrund, insbesondere Schießübungen; kein Wunder in einem Land, in dem schätzungsweise 300 Millionen Pistolen und Gewehre im Umlauf sind.

In Deutschland wird ein ungleich höherer Wert auf Deeskalation gelegt, die Ausbildung der Beamten dauert drei Jahre. Der Beruf wird zunehmend akademisiert. Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen stellt gar keine Polizeibeamte im mittleren Dienst ein. Die Ausbildung ist ein duales Studium, ein Bachelor Studiengang über sechs Semester. Trotzdem gerieten erst im vergangenen Jahr Polizeischüler unter Rassismus-Verdacht.

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In Deutschland stiegen zuletzt die Angriffe gegen Polizisten

Wenn im deutschen Sicherheitsapparat von Polizeigewalt die Rede ist, sind in der Regel Übergriffe gegen und nicht von Beamten gemeint. Dazu ist BKA-Präsident Holger Münch denn auch sofort auskunftsfähig. 2019 wurden 36.959 Fälle von „Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf die Staatsgewalt“ erfasst. Das waren 8,2 Prozent mehr als im Vorjahr.

Die April-Ausgabe des Magazins der GdP trägt den Titel „Woher kommt der Hass auf uns?“. Im Innenteil berichtet eine junge Beamtin, „ich war schon so ziemlich alles: das Bullenschwein, die Dämliche da, die Fotze.“ Die Polizisten vermissen Respekt. Britta Zur, die Polizeipräsidentin von Gelsenkirchen, beklagt, es sei „Volkssport geworden, öffentlich Bedienstete herabzuwürdigen, zu beleidigen oder gar anzugreifen.“

Nicht nur bei der GdP klingelt an diesem Montag allerdings das Telefon. Im Berliner Büro der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) berichtet am frühen Morgen ein Demonstrant von Übergriffen der Polizei. Kein Einzelfall. „Es kamen ziemlich viele in den letzten Monaten Opfern“, berichtet KOP, gerade jetzt, weil die Polizei in Corona-Zeiten verstärkt kontrolliert; auch um wie am Wochenende selbst bei Demonstrationen auf die Einhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen zu achten.

Hohe Dunkelziffer bei Opfern von Polizeigewalt

Schon statistisch gibt es zwischen beiden Seiten keine Waffengleichheit. Während über Übergriffe auf Polizisten akribisch Buch geführt wird, zeigt eine Befragung – 3.375 Fälle - von Opfern durch den Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum vom September 2019 ein erhebliches Dunkelfeld. Über neuneinhalb Wochen zwischen November 2018 und Januar 2019 lief die Online-Befragung.

Über 70 Prozent der Befragten berichteten von körperlichen Verletzungen. In 86 Prozent der Vorfälle wurde kein Strafverfahren durchgeführt. Die Fälle gingen folglich gar nicht erst in die Statistik ein. Die Forscher selbst bezeichnen ihre Stichprobe zwar nicht als repräsentativ, aber aufschlussreich sind die Antworten trotzdem: Die Betroffenen schätzen die Erfolgsaussichten einer Anzeige niedrig ein.

Niedrige Anklagequote bei Strafverfahren gegen Polizei

Ein Blick in die Statistik der Justiz bestärkt sie in ihrer Skepsis: Strafverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wegen rechtswidriger Gewaltausübung weisen eine auffallend niedrige Anklagequote auf. Nur in zwei Prozent der Anzeigen gegen Körperverletzung kam es 2018 zur Anklage. „Das ist sehr niedrig“, sagt die Bochumer Kriminologin Laila Abdul-Rahman.

Allgemein liegt diese Quote beim gleichen Delikt bei 21 Prozent. Die Befragten schilderten die vielen Formen von Gewalt: Stöße, Schläge, hartes Anfassen, Tritte, bei Großveranstaltungen – bei Demonstrationen und besonders bei Fußballspielen – der übertriebene Einsatz von Pfefferspray.

Die Forscher haben die Betroffenen auch nach ihren Diskriminierungserfahrungen befragt, ob sie einen Migrationshintergrund haben und typischerweise als nicht „deutschaussehend“ wahrgenommen werden. Unter ihnen war der Anteil derjenigen besonders hoch, die nach eigenem Empfinden häufiger kontrolliert wurden und Polizeigewalt erleben. In vielen Bundesländern - Vorreiter sind Hessen und Rheinland-Pfalz - testet die Polizei Body-Cams. Die Kameras, am Körper getragen, können Gewalttäter abschrecken und Beweise sichern – im Zweifel auch gegen Beamte.

Mit solchen tragbaren Kameras, „Bodycams“ genannt, sollen Beweise gesichert werden.
Mit solchen tragbaren Kameras, „Bodycams“ genannt, sollen Beweise gesichert werden. © dpa | Fredrik von Erichsen

In Großbritannien gibt es bereits eine unabhängige Meldestelle

Wirkungsvoller wäre eine unabhängige Stelle mit einer eigenen Ermittlungskompetenz. Für Kriminologin Abdul-Rahman ist die Esken-Forderung nach einer unabhängigen Stelle „definitiv eine Sache, die wir befürworte würden“. In Großbritannien gibt es eine solche Behörde.

In Berlin soll ein Polizeibeauftragter ab 2021 Konflikte zwischen Bürgern und Behörden schlichten. Das Amt soll beim Abgeordnetenhaus angesiedelt sein, ähnlich dem Bundeswehrbeauftragten des Bundestags. In Deutschland lassen einige Bundesländer, etwa Bayern, Vorwürfe gegen Beamte zumindest von einer höheren Stelle untersuchen, vom Landeskriminalamt. So will man im Freistaat einen Vorwurf entschärfen, vor dem Esken warnt: dass polizeiliche Korpsgeist eine größere Rolle als die Rechte der Bürger spiele.

Grüne wollen Polizeibeauftragten einsetzen

Die Grünen fordern seit Langem die Einrichtung eines unabhängigen Polizeibeauftragten. Dazu hätten sich alle Fraktionen des Bundestages als Konsequenz aus dem rassistisch motivierten Terror des NSU verpflichtet, erinnert Innenpolitikerin Irene Mihalic.

Nur sei das stets am Widerstand von Union und SPD gescheitert. Die Grünen wollen ihren Gesetzentwurf wieder hervorholen. „Den Worten der SPD-Vorsitzenden müssen jetzt Taten folgen“, sagt sie.

Bei Fällen, in denen Polizeibeschäftigte rassistisch handelten, „müssen Konsequenzen erfolgen“, stimmt GdP-Mann Schilff zu. „Der Polizei und ihren Beschäftigten aber eine solche Grundhaltung vorzuhalten, ist abwegig und trägt populistische Züge.“ Er hält nicht viel von einer unabhängigen Stelle, „die notwendige Kontrolle wird durch die Legislative und die Staatsanwaltschaft und Gerichte gewährleistet“.

Die Möglichkeiten für eine Clearingstelle seien begrenzt, lägen allenfalls in der Vermittlung zwischen Bürgern und Polizei.

Innenministerkonferenz-Chef weist Esken-Vorwurf zurück

Auch der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der thüringische Innenminister Georg Maier (SPD), weist Eskens Aussage eines „latenten Rassismus“ innerhalb der deuschen Sicherheitsbehörden scharf zurück. „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die Integrität unserer Polizei strukturell infrage zu stellen“, sagte Maier unserer Redaktion.

Man wisse um Einzelfälle, denen man mit „aller Härte des Rechtsstaates nachgeht“. Aber gerade jetzt müsse die Politik hinter der Arbeit der Polizisten stehen.

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), bestreitet „latenten Rassismus“ innerhalb der Sicherheitskräfte.
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), bestreitet „latenten Rassismus“ innerhalb der Sicherheitskräfte. © dpa | Bodo Schackow

Esken, die bereits nach Ausschreitungen in der Silvesternacht die Polizei kritisierte und damit eine Debatte auslöste, hält dagegen. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd durch einen Polizeieinsatz seien Zehntausende weltweit aufgestanden, weil er kein Einzelfall gewesen sei. „Deutsche Demonstranten schauen aber auch auf die Verhältnisse vor der eigenen Haustür.“ Diese Diskussion hat Esken schon erreicht.

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