Berlin. Die Unterschiede beim Renteneintrittsalter sind in Europa groß. Eine Angleichung der Renten in der EU ist überfällig. Ein Kommentar.

Es hat für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fast etwas Surreales, wenn man auf die Auseinandersetzungen der französischen Regierung mit der eigenen Bevölkerung beim Thema Rente blickt. Präsident Macron kämpft mit dem Rücken an der Wand für eine Rente mit 64 und hat halb Frankreich und die Gewerkschaften gegen sich. In Deutschland würde man ihn dafür zum Ehrenvorsitzenden der Linkspartei erheben.

Arbeiten bis zum 67. Lebensjahr ist hierzulande längst Gesetz und wird stufenweise eingeführt. Massendemonstrationen und „Gelbwesten“ die Mülltonnen entzünden und durch die Hauptstadt marschieren? Fehlanzeige. Die arbeitende Bevölkerung wäre hierzulande schon froh, wenn es auch bei dieser Altersgrenze von 67 bleibt. Die Forderungen nach noch längerer Lebensarbeitszeit gehören zum Standard-Repertoire der Arbeitgeberverbände. Die FDP will sie sogar ganz aufheben, einen flexiblen Eintritt nach schwedischem Modell einführen.

Rente: Gefälle in Europa kann auf Dauer nicht funktionieren

Blickt man in Frankreich genauer hin, ist das Problem von Emmanuel Macron noch krasser. Selbst das derzeit gültige Renteneintrittsalter von 62 Jahren scheint den meisten Franzosen absurd hoch. Sie gehen in vielen Fällen sogar noch früher. Das Land kennt 42 verschiedene Rentensysteme mit individuellen Regelungen. So dürfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe im Einzelfall schon schon mit 52 Jahren in Rente. Im Vergleich dazu müssten jüngere Beschäftigte in Deutschland ganze 15 Jahre länger arbeiten.

Dass eine solches Rentengefälle – auch bei der Bezugshöhe – in einem zusammenwachsenden EU-Raum weder wirtschaftlich noch atmosphärisch gesund ist, liegt auf der Hand. Es kann auf Dauer nicht funktionieren, dass man in Straßburg mit 62 aufhören darf und auf der anderen Rhein-Seite in Baden-Baden bis 67 arbeiten muss. Aber nicht nur die Franzosen gönnen sich den frühen Lebensabend. In der Slowakei, Luxemburg, Slowenien und Griechenland ist ebenfalls schon mit 62 Jahren Schluss.

Angleichung der Rente in der EU ist überfällig

Jörg Quoos, Chefredakteur der Berliner Zentralredaktion
Jörg Quoos, Chefredakteur der Berliner Zentralredaktion © Dirk Bruniecki

Die schrittweise Angleichung bei der Rente in der EU ist spätestens seit 2020 überfällig. Schließlich hat sich damals die EU erstmals entschlossen gemeinsam Schulden aufzunehmen, um für die EU-Länder die Folgen von Corona abzumildern. Das nährt bei vielen die Sorge vor einem schleichenden Eintritt in eine gemeinsame europäische Schuldenunion. Sowohl Frankreich als auch Italien wendet anteilig viel mehr Geld für die eigenen Rentenkasse auf als Deutschland.

Wer gemeinschaftlich Geld in diese Länder pumpt, stützt auch ein System, das man europaweit betrachtet nur als ungerecht bezeichnen kann.

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Für Macron geht es um alles oder nichts

Daher ist es aus deutscher Sicht Emmanuel Macron zu wünschen, dass er mit seiner Rentenreform in Frankreich durchkommt. Begreift man Frankreich und Deutschland ernsthaft als die wichtigsten Motoren und Partner der Europäischen Union, kann es bei diesen dramatischen Unterschieden bei der Verrentung nicht bleiben. Auch wirtschaftlich braucht Frankreich diese Reform, wenn der Abstand zum starken Nachbarn nicht noch größer werden soll.

Für Macron geht es jetzt um alles oder nichts. Und es rächt sich, dass er nicht schon in der ersten Amtszeit die Auseinandersetzung suchte. Jetzt machen die Auswirkungen von Corona und die horrende gestiegenen Lebenshaltungskosten seinen Kampf noch schwerer. Aber es gibt kein Zurück. Wenn Macron nachgibt, wird er diese Rentenreform als Präsident nicht mehr durchsetzen. Lesen Sie auch: Weniger arbeiten, mehr Rente: Wie machen die Franzosen das?