Ankara. Der türkische Präsident Erdogan verteilt aktuell teure Wahlgeschenke. Nun ermöglicht er es Millionen Türken, früher in Rente zu gehen.

Für mehr als zwei Millionen Beschäftigte in der Türkei beginnt das neue Jahr unverhofft mit einer guten Nachricht: Sie brauchen ab 2023 nicht mehr zu arbeiten. Staatschef Recep Tayyip Erdogan schickt sie persönlich in Rente – allerdings nicht ganz uneigennützig: Erdogan hofft, dass er durch dieses Geschenk bei den bevorstehenden Wahlen seinen Job als Präsident behalten kann.

Spätestens im Juni werden die Wahlberechtigten in der Türkei über ein neues Parlament abstimmen und ein Staatsoberhaupt wählen. Der genaue Termin steht noch nicht fest, aber der Wahlkampf läuft bereits. Und Erdogan, der seit inzwischen 20 Jahren die Geschicke des Landes bestimmt, zieht alle Register. Denn Meinungsforscher bescheinigen ihm schwächelnde Zustimmungswerte. 85 Prozent Inflation und wachsende Armut drücken auf die Stimmung.

Höherer Mindestlohn und früher in Rente: Erdogan vergibt Wahlgeschenke

Erst vor einer Woche gab Erdogan eine Erhöhung des staatlich festgesetzten Mindestlohns auf 8500 Lira (430 Euro) im Monat bekannt. Das ist fast doppelt so viel wie im Januar 2022. Und nun der Rentenknüller: Wer seit September 1999 mindestens 20 Jahre lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, kann sofort in Rente gehen. Mehr zum Thema: Rente im Ausland – Wo man im Alter Steuern sparen kann

Bisher galt in der Türkei ein Renteneintrittsalter von 58 für Frauen und 60 für Männer. Nach den neuen Regeln können schon Mitvierziger den Ruhestand genießen. Betroffen sind rund 2,3 Millionen Menschen. Die Zahl der potentiellen türkischen Rentnerinnen und Rentner steigt dadurch sprunghaft von 13,9 auf 16,2 Millionen. Billig ist das Wahlgeschenk nicht: Allein im ersten Jahr werden die Frühpensionierungen die Rentenkassen mit 250 Milliarden Lira (12,5 Milliarden Euro) belasten, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg einen Insider. Arbeitsminister Vedat Bilgin bezifferte die Kosten auf „mehr als 100 Milliarden Lira“ – wie viel mehr sei noch unklar, weil man nicht wisse, wie viele Menschen nun in Rente gehen wollen.

Niedrigeres Renteneintrittsalter in der Türkei: Experten sind alarmiert

Regierungsunabhängige Experten warnen vor horrenden strukturellen Defiziten in den Rentenkassen. Denn die Geburtenrate geht zurück, die noch „junge“ türkische Gesellschaft beginnt zu altern. Ökonomen fragen, ob die Türkei es sich volkswirtschaftlich leisten kann, wenn immer weniger Menschen arbeiten. Schon jetzt liegt die Erwerbstätigenquote der über 15-Jährigen nur bei 43,5 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es fast 60 Prozent. Auch interessant: Rente ab 70 – Diese Länder erhöhen das Renteneintrittsalter

Aber Erdogan scheint bereit, selbst die wirtschaftliche Zukunft seines Landes zu opfern, wenn er damit seinen Machterhalt sichern kann. Dass der Staatschef für den Wahlsieg alle Hebel in Bewegung setzt, erfährt jetzt auch Ekrem Imamoglu, Istanbuls Oberbürgermeister. Der 52-Jährige gilt in Meinungsumfragen als einer der aussichtsreichsten Herausforderer Erdogans bei der bevorstehenden Präsidentenwahl. Aber ob er überhaupt antreten kann, ist ungewiss.

Erdogan hat einen Angstgegner.
Erdogan hat einen Angstgegner. © Yasin AKGUL / AFP

Mitte Dezember verurteilte ein Gericht Imamoglu wegen Beamtenbeleidigung zu zweieinhalb Jahren Haft und einem Politikverbot. Regierungskritiker sehen dahinter einen Versuch Erdogans, Imamoglu politisch kaltzustellen. Wird das Urteil rechtskräftig, müsste er sein Amt als Oberbürgermeister aufgeben und könnte nicht gegen Erdogan kandidieren.

Oppositionspolitiker Imamoglu: "Erdogan wird vor nichts zurückschrecken"

Jetzt fürchtet Imamoglu ein weiteres Gerichtsverfahren. Innenminister Süleyman Soylu wirft dem Oberbürgermeister vor, er beschäftige in der Stadtverwaltung „Terroristen“. Sollte es deswegen zu Ermittlungen kommen, werde er Imamoglu absetzen, kündigte der Minister an. Lesen Sie auch: Erdogans Angstgegner – Siegt Imamoglu trotz Politikverbot?

Imamoglu sagte diese Woche bei einer Pressekonferenz in Istanbul, die Staatsanwaltschaft prüfe derzeit eine Liste mit mehr als 1650 verdächtigen Beschäftigten der Stadtverwaltung. Er schließe nicht aus, dass er aufgrund dieser Ermittlungen abgesetzt werde. Ziel der Regierung sei es, Istanbul als das wirtschaftliche und politische Machtzentrum der Türkei unter ihre Kontrolle zu bringen, glaubt Imamoglu. Staatschef Erdogan werde deshalb „in den nächsten drei, vier, fünf Monaten vor nichts zurückschrecken“.