Tiflis. Tausende Russen fliehen vor Putins Einberufung über die Grenze nach Georgien. Willkommen sind sie nicht. Zu groß ist die Angst.

Die umfassenden Bauarbeiten auf der Prachtstraße Rustawelis Gamsiris haben das geschäftige Treiben auf der schönsten Straße der georgischen Hauptstadt nicht zum Erliegen gebracht. Die Cafés und die Restaurants sind voll, das Wetter ist mild, und in Tiflis scheint das Touristenaufkommen das Niveau vor der Pandemie erreicht zu haben. Unter den Fremdsprachen dominiert vor allem eine: Russisch.

In den letzten Jahren ist Georgien zum Zufluchtsort für Belarussen und für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine geworden. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs und mehr noch, seit der russische Präsident Waldimir Putin die Teilmobilmachung angekündigt hat, sind es jedoch vor allem Russen. Er hat eine regelrechte Massenflucht ausgelöst und Georgien ist zu einem Zentrum der Flüchtlinge geworden.

Ukraine-Krieg: Russen fliehen in Scharen vor der Einberufung

Die Warteschlangen an der Grenze sind bis zu 20 Kilometer lang. Jeden Tag kommen 6000 bis 10.000 russische Bürger in Georgien an. Die Einreise aus den ehemaligen Sowjetrepubliken ist dank der Visumsfreiheit einfach.

Zwar stoppte Russland am vergangenen Wochenende an der Grenze zu Georgien nach eigenen Angaben mehr als 180 Wehrpflichtige, so die Agentur Interfax. Aber die allermeisten schaffen es. Willkommen sind sie nicht überall in Georgien. Zu sehr hat das Land in seiner Geschichte unter Russland gelitten hat.

Der Ukraine-Krieg ist allgegenwärtig

"Sie sagen, sie seien Touristen und kommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad nach Georgien. Aber sie fliehen von der Einberufung“, sagt Touristenführer Lewan (34). Begeistert ist er nicht. Sie blieben vor allem in den touristischen Orten wie Tiflis, Bordschomi oder Batumi. "Sie sollten lieber in ihrem Land bleiben und gegen das Regime kämpfen!“

Kilometerlang stauten sich die Autos an der Grenze zu Georgien.
Kilometerlang stauten sich die Autos an der Grenze zu Georgien. © AFP | Handout

Die kleinen Souvenirstände auf der Prachtstraße verkaufen georgische und ukrainische Flaggen. Am Denkmal für die Tragödie des 9. April 1989 vor dem Parlament befinden sich Fotos georgischer Soldaten, die in der Ukraine gekämpft haben, und gelb-blaue Fahnen. Das Mahnmal erinnert an die 21 Menschen, die getötet wurden, als die russische Armee eine Demonstration für Demokratie blutig niederschlug. Überall in der Stadt finden sich anti-russische Slogans auf Georgisch, Englisch und Russisch.

Der 17-Jährige sagt, er hasse die Russen

Am Ausgang der U-Bahnstation Rustawelis verkündet der 17-jährige Nika Kalandadze, dass er die Russen hasst. Er ist durch seine Teilnahme an der Castingshow X Factor berühmt geworden und moderiert derzeit eine TV-Sendung. Er verstehe nicht, wie Georgien zum sicheren Hafen für die Russen werden konnte, meint er. "Sie halten immer noch 20 Prozent unseres Territoriums besetzt (Südossetien und Abchasien, Anm.d.R.)“, regt sich der junge Mann auf. "Die Russen sollten nicht länger von der Visumspflicht befreit sein“.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Was er sagt, ist in Georgien sehr populär. Es gibt eine breite Petition, damit die Visumspflicht für russische Staatsbürger eingeführt wird. Einer Umfrage des International Republican Institute im März zufolge finden 90 Prozent der Georgier, dass Russland für das Land die größte politische Bedrohung darstellt. Und seitdem ist viel passiert.

Ansturm der Russen: Putins Soldaten sind noch in Georgien

Die Menschenrechtsanwältin Ana Aptsiauri macht sich Sorgen. Sie habe das Privileg, 1997 in einem unabhängigen Staat geboren worden zu sein. Bei der Geburt ihrer Eltern und Großeltern war Georgien von den Sowjets besetzt. Sie sei elf Jahre alt gewesen, als Russland 2008 in Georgien einmarschiert sei.

Ana Aptsiauri macht eine kleine Pause, dann sagt sie: "Unsere lange Geschichte ist voll von Annektierung, Besetzung, ethnischen Säuberungen, Deportationen und erzwungener Assimilierung. Man darf nicht vergessen, dass die russischen Truppen immer noch in Georgien präsent sind und auch weiterhin georgische Staatsbürger entführen, verhaften und foltern.“

Ansturm der Russen: Die Mieten sind explodiert

Die Verzweiflung der Georgier ist auch wirtschaftlich bedingt. Die sehr hohe Arbeitslosigkeit (zwischen 18 und 20 Prozent) bringt viele junge Leute dazu, ihre Heimat zu verlassen. "Ich bin nicht wütend auf die Russen, aber ich bin sehr frustriert“, sagt die 20-jährige Studentin Medea. "Sie nehmen den jungen Georgiern Möglichkeiten weg, sie sind reicher als wir, treiben die Mietpreise. Sie wissen absolut nichts über unsere Geschichte, und unter den Georgiern kocht der Hass.“ Vor kurzem habe sie ein Video auf TikTok gesehen, in dem georgische Jugendliche einen Russen angegriffen haben. Das sei inakzeptabel und beunruhigend. "Aber ich verstehe die Wut.“

Eine Gruppe von Russen geht nach dem Passieren der russisch-georgischen Grenze in Werchni Lars in Georgien über eine Straße. Hier haben sich am Grenzübergang lange Schlangen von Fahrzeugen gebildet.
Eine Gruppe von Russen geht nach dem Passieren der russisch-georgischen Grenze in Werchni Lars in Georgien über eine Straße. Hier haben sich am Grenzübergang lange Schlangen von Fahrzeugen gebildet. © dpa | Zurab Tsertsvadze

Mitgefühl mit den jungen Russen gibt es auch

Mitleid mit den Russen zu zeigen, die vor der Einberufung fliehen, "ist absolut verpönt“, sagt der Finanzcontroller Shako Zagaidze. Er diskutiere das Thema nicht einmal mehr mit meiner Familie. Er wolle sich sein Mitgefühl mit diesen Russen nicht verbieten. "Wer sind sie denn? Arme Kerle wie ich, die überhaupt kein Interesse daran haben, in einen Krieg zu ziehen“, empört sich der 29-Jährige. "Sie kommen nicht nach Georgien, weil sie soziale Vorteile haben, sondern für die Freiheit. Wir müssen sie aufnehmen und dieses Gefühl stärken, damit die Russen endlich aufwachen.“

Er zeigt auf zahlreiche Gruppen von Russen, die auf der Rustawelis Gamsiris in Restaurants sitzen, und sagt: "Je mehr Männer fliehen, desto mehr schwächen sie das Land und umso schneller verliert Russland den Krieg!“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgepost.de