Moskau. Für seinen Krieg lässt Putin massenhaft Reservisten einziehen. Das Entsetzen ist groß - viele versuchen, sich zu verstecken oder ins Ausland zu flüchten. Kann die Stimmung gegen den Kremlchef kippen?

Hundertschaften des Sicherheitsapparats von Kremlchef Wladimir Putin prügeln in vielen Städten die größten Anti-Kriegs-Proteste in Russland seit Monaten nieder. Nach spontanen Straßenaktionen gegen die von Putin verfügte Teilmobilmachung sind noch immer mehr als 1000 Menschen in Gewahrsam. Trotzdem ziehen die Behörden des Landes mit aller Härte den Erlass durch, nun mindestens 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine einzuziehen. Putin will so Personalprobleme dort lösen.

Erstmals aber erfasst der seit sieben Monaten dauernde Angriffskrieg Putins gegen das Nachbarland nun auch Russen und ihre Familien, die unfreiwillig in das Blutvergießen hineingezogen werden. Bisher setzte Putin auf Freiwillige. Jetzt ist der Krieg, der weiter offiziell nur «militärische Spezialoperation» heißen soll, allgegenwärtig.

Roter Zettel führt in den Krieg

Viele erhielten den roten Zettel mit der Aufforderung, sich im Wehrkreiskommando einzufinden, schon am Mittwoch, kurz nachdem Putins im Fernsehen angekündigte Mobilmachung das Land wie eine Schockwelle erfasste. Der Präsident betonte, dass eine Frontlinie von 1000 Kilometern entlang der besetzten Gebiete gesichert werden müsse. Es geht aus seiner Sicht um einen Kampf für Russlands Überleben. Das Land werde vom Westen, von den USA und der Nato bedroht, behauptete der 69-Jährige. Der Krieg war für viele Russen bisher weit weg.

Nun sollen die Bürger des Landes an die Waffe gezwungen werden, um angebliche Personalprobleme der Armee zu lösen. Zwar haben viele Menschen in Russland bisher eher gleichgültig dem Krieg zugesehen und Putin Rückhalt bescheinigt. Aber die Stimmung könnte nun kippen. Umfragen zeigten nie eine große Bereitschaft der Bürger, selbst gegen ukrainische Brüder und Schwestern in den Kampf zu ziehen.

Auch deshalb stürmten viele Russen zu den Flughäfen, um etwa nach Armenien und in die Türkei zu fliegen. Tausende schafften es. Die Flüge sind aber auf Tage hinaus ausgebucht, andere Ziele weiter weg kaum bezahlbar. Ein Flug etwa nach Taschkent (Usbekistan) für Donnerstagabend kostete 3000 Euro. An den Grenzen zu Finnland, wohin es nur mit Visum geht, oder in die Südkaukasusrepublik Georgien bildeten sich kilometerlange Schlangen.

Panik macht sich breit

Schon nach Beginn von Putins Invasion in die Ukraine im Februar hatten viele Russen das Weite und Exil im Ausland gesucht. Aber jetzt sprechen viele von Panik. In Moskau erzählt ein 41 Jahre alter Mann auf der Straße, dass er gar keine Kampferfahrung oder echte Militärausbildung habe. Aber er ist Leutnant der Reserve. Weil er in einer anderen russischen Zeitzone des Riesenreichs gemeldet ist, müsste ihm dort an seinem Wohnort der Einberufungsbescheid gegen Unterschrift übergeben werden. Die Meldeadresse ist weit weg.

«Ich werde auf gar keinen Fall in diesem sinnlosen Krieg Putins kämpfen, ich gehe lieber ins Gefängnis», sagt der Ingenieur. Er hat Angst, dass er bei einem Ausreiseversuch festgehalten und direkt in die Ukraine geschickt wird: «Verstecken ist ein Ausweg. Aber die Unsicherheit ist das Schlimmste, man traut sich kaum auf die Straße», sagt er auch mit Blick auf die Proteste am Vorabend in Moskau.

Hunderte Festnahmen gab es allein in der russischen Hauptstadt am Mittwoch, als die Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete es als rechtens, dass dort Festgenommenen direkt auch der Einberufungsbescheid überreicht wurde. Die Diskussion darüber, was rechtens ist und was nicht, füllt inzwischen ganze Internetportale. Viele suchen nach Auswegen, die Einberufung zu umgehen. Juristen geben viel Rat. Aber unterm Strich gibt es auch immer wieder die Ansage, dass in einem autoritären Staat mit Justizwillkür eben keine Rechtssicherheit bestehe.

Menschen teils aus dem Bett geholt

Zahlreiche Experten beschwichtigen zwar, dass Russland in den Regionen gar nicht mehr die Ressourcen und die Strukturen habe, die Menschen für den Krieg in der Ukraine einzusammeln. Es gab aber aus vielen Teilen des Landes Berichte darüber, dass Menschen massenhaft eingezogen wurden - teils aus dem Bett geholt wurden.

Auch die russische Staatsagentur Ria Nowosti ließ ihre Kommentarfunktion laufen - mit viel beißender Kritik an Putin. «Wir haben doch einen gewaltigen Beamtenapparat, mir scheint, sie sollten dort mal anfangen mit der Mobilisierung», schrieb etwa die Nutzerin Olja K.. «Wo ist denn unsere professionelle Armee?», fragte ein Nutzer mit dem wohl nicht echten Namen Mischa Mischkin. «Die russischen Steuerzahler haben offenbar all die Jahre die Armee bezahlt, damit sie nun selbst dort irgendwo sterben.» Er fragte auch, wie Putin überhaupt dazu komme, Bürger zu einem Krieg auf einem anderen Staatsgebiet zu zwingen, obwohl gar kein Krieg erklärt sei.

In Russland ist immer wieder von einem allgemeinen sozialen Vertrag die Rede. Demnach mischt sich niemand ernsthaft in Putins Politik ein - und das ruhige Volk bekommt dafür im Gegenzug soziale Sicherheiten. Dieser Deal steht nach Meinung von Experten auf dem Spiel, weil der Krieg nun allen im Land ins Bewusstsein kommt und zu einer bisher so noch nicht erlebten Politisierung der Gesellschaft führen könnte.

Keine Garantie mehr für Stabilität

Der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny hatte am Mittwoch bei einem Gerichtsauftritt kritisiert, dass Putin einfache Bürger bluten lasse und in den «Fleischwolf» werfe, aber die Armee, Nationalgarde und die Truppen des Innenministeriums verschone. Sie sind Putins Versicherung dafür, die Proteste und mögliche Unruhen unter Kontrolle zu halten. Eine Garantie für Stabilität aber gibt es nicht mehr.

Der russische Politologe Abbas Galljamow erwartet, dass die Proteste noch zunehmen könnten, wenn die Einberufungen für jeden greifbare Realität werde - und «diejenigen, die weg sind, in Särgen wieder zurückkehren, wenn die Bestattungen sind». Für die bisher getöteten Vertragssoldaten, die freiwillig für Geld gekämpft hätten, habe sich kaum jemand interessiert. «Aber der Tod von Reservisten, das ist etwas ganz anderes. Das ist eine furchtbare Ungerechtigkeit.»