Moskau. Putins „Spezialoperation“ in der Ukraine wirkt sich auf den Lehrplan aus. Selbst die Kleinsten sollen auf Staatslinie gebracht werden.

Die kleine Mascha geht in die sechste Klasse. In der Schule „Nummer 9“ in Efremow, Region Tula. Auf der Website ihrer Schule findet sich ein Plakat mit der Aufschrift „Helden einer Spezialoperation“ und „Unterstützt unsere Jungs an der Front!“

Die Geschichte um Mascha beginnt im April des vergangenen Jahres im Kunstunterricht. Maschas Lehrerin fordert die Klasse auf, Bilder zur Unterstützung der russischen Truppen in der Ukraine zu malen. Das Mädchen zeichnet die Flagge Russlands und die der Ukraine – die erste sagt „Nein zum Krieg“, die zweite sagt „Ehre der Ukraine“, in der Mitte steht eine Frau mit einem Kind, Raketen fliegen aus Russland auf sie zu. So erzählt es die Menschenrechtsorganisation OVD-Info.

Für Mascha endete die Geschichte zunächst im Waisenhaus. Und für ihren Vater Alexeij Moskalew, der alleinerziehend ist und Ziervögel züchtet, bedeutete es die zwischenzeitliche Festnahme und eine Geldstrafe. Nun steht er unter Hausarrest, Mascha ist wieder bei ihrem Vater.

Die Lehrerin sagte dem Kind: „Du bist ein Verräter“

„Hauptsache, er ist zu Hause und bei seiner Tochter, um die er sich so große Sorgen gemacht hat“, sagt Moskalews Anwalt gegenüber dem Nachrichtenportal RBC. Es ist eine Geschichte aus der russischen Provinz – und kein Einzelfall. Als eine Schülerin in Perm am 23. Februar, dem Vorabend des Jahrestages der Invasion, zu spät zu einem patriotischen Konzert kommt, sagt ihre Lehrerin: „Ab morgen kommst du nicht mehr zum Unterricht – du bist ein Verräter!“

Bereits die Kleinsten in Russland sollen auf Staatslinie gebracht werden – nach Vorstellung von Präsident Putin die neue Aufgabe für Russlands Schulen. Die Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Interfax vom letzten Dezember klingt wenig spektakulär, doch sie bedeutete eine grundlegende Änderung im Schulsystem Russlands: „Das vom Bildungsministerium genehmigte Bildungsprogramm in sechs Fächern, der Kurs für grundlegende Lebenssicherheit (OBZh) wurde durch eine militärische Grundausbildung (NVP) ergänzt.“

Es ist wird auch sehr praktisch werden – an den Waffen

Zum neuen Schuljahr, am 1. September, soll es losgehen. Was die Schülerinnen und Schüler dann lernen sollen, sind „Grundlagen der integrierten Sicherheit“ und „Grundlagen der Landesverteidigung“. Und es wird sehr praktisch werden. „Während des Moduls „Elemente des NVP“ vertieft man sich in das Studium von Drill und Militärgruß, Waffen – darunter das Kalaschnikow-Sturmgewehr, F-1- und RGD-5-Granaten, sowie Aktionen im modernen Schießkampf und persönlicher Schutzausrüstung.“

Im Schulunterricht soll über „Rechte und Pflichten eines Bürgers während der Wehrpflicht und des Militärdienstes“ diskutiert werden. Um das neue Schulfach ist in Russland eine heftige Kontroverse entbrannt. Für den Parlamentsabgeordneten Sergej Mironow, einem heftigen Befürworter des Programms, ist die Sache klar: „Unter den derzeit sehr schwierigen Bedingungen sollte jeder junge Mann, wenn nötig, in der Lage sein, mit Waffen umzugehen, und verstehen, was eine militärische Erstausbildung ist“, sagt er.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Daniil Ken, Leiter der unabhängigen Gewerkschaft „Bündnis der Lehrer“ meint, ist anderer Meinung. Das Ganze sei „unmoralisch“, kritisiert er. Raushan Valiullin, Leiter der Gewerkschaftsabteilung in Tatarstan, weist darauf hin, dass es im Unterricht einfach nicht genügend Zeit für eine militärische Ausbildung gebe.

Sorge, dass durch Waffenausbildung auch die Gewalt steigt

Die Ausbildung an der Schusswaffe in der Schule, das gab es bereits zu Sowjetzeiten. In Russland wurde dieser Unterricht dann abgeschafft. Nun soll er wiederkommen. Manche Eltern und Lehrer befürchten, dass dadurch die Gewalt an den Schulen steigt. Schließlich erschüttern immer wieder Amokläufe an Schulen die russische Gesellschaft.

Wladimir Pawlow, Parlamentsabgeordneter der Kremlpartei „Einiges Russland“ hält dagegen: „Die Tatsache, dass wir Jungen und Mädchen erklären, wie Waffen funktionieren, wird nichts ändern. Sie können dasselbe im Internet finden.“ Sergej Mironow schlägt vor, dass Ex-Soldaten das neue Fach unterrichten sollten. Dies würde auch neue Jobs für die Rückkehrer von der Front schaffen.

Offiziell geplant ist dies zwar nicht, doch vereinzelt geben schon heute ehemalige Frontsoldaten Unterricht. Das Online-Portal „Fontanka“ veröffentlichte jüngst ein Video, in dem ein Kampfpilot vor der Klasse steht. Er wurde verwundet und wird nun in Sankt Petersburg medizinisch behandelt. In der Stadt wolle er nun „der Armee helfen“ und „patriotische Arbeit mit Schulkindern“ leisten.

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Russland: Ein neues Geschichtslehrbuch in Arbeit

Ex-Soldaten als Lehrer? Viele, wie etwa der Psychologe Dmitri Leontjew, sind dagegen. „Natürlich gibt es keinen Grund zu glauben, dass diejenigen, die von der Front zurückgekehrt sind, erfolgreich mit Kindern interagieren und ihnen Wissen vermitteln können, es gibt mehr Gründe zu befürchten, dass sie eine ungesunde psychologische Atmosphäre in die Schule bringen können.“

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Die Militärausbildung an den Schulen, sie ist nur der erste Schritt. Zug um Zug sollen auch die Schulbücher verändert werden. Derzeit sei ein neues Geschichtslehrbuch in Arbeit, so der Pressedienst des russischen Bildungsministeriums. Daran würde ein Team aus Historikern, Soziologen und Psychologen arbeiten. Im Schuljahr 2024/25 soll es eingeführt werden.

Ein Abschnitt würde auch die „Spezialoperation“ in der Ukraine behandeln. „Schulkinder haben immer Fragen zum Geschehen, sie suchen nach Antworten“, heißt es zur Begründung. „Die Schule und Lehrer sollten dabei helfen, unverfälschte Informationen zu finden. Geschieht dies nicht, finden Kinder Antworten dort, wo der Informationskrieg in vollem Gange ist.“