Brüssel. Die EU hat Putin den Geldhahn zugedreht. Oder? Offenbar klaffen riesige Lücken in den Sanktionen – die ermöglichen Milliardengeschäft.

  • Trotz zahlreicher Sanktionen verdient Russland im Handel mit der EU Milliarden
  • Denn einige Bereiche sind von den beschlossenen Maßnahmen ausgenommen
  • Hat die EU Putin wirklich den Geldhahn zugedreht?

Verärgert drängte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die europäischen Regierungschefs zur Eile. Strengere Sanktionen gegen Russland seien notwendig, doch die Europäische Union verschiebe die Entscheidungen, klagte Selenskyj beim jüngsten EU-Gipfel, an dem er zeitweise per Videoschalte teilnahm.

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat die Europäische Union schon zehn Sanktionspakete beschlossen – aber noch immer gibt es rätselhafte Lücken bei den Importverboten. Tanker-Öl, Kohle oder Stahl darf Russland zwar nicht mehr in die EU verkaufen. Doch Atombrennstoffe für europäische Kernkraftwerke sowie Diamanten stehen bis heute nicht auf der Sanktionsliste. Damit verdient Russland weiter Milliarden.

Selenskyj ist schon länger empört: „Russland riskiert die Gefahr einer Strahlenkatastrophe in Europa, aber seine Atomindustrie ist frei von globalen Sanktionen. Ist das normal? Ich glaube nicht.“ Und er mahnt: „Frieden ist wertvoller als Diamanten“. Selenskyjs Berater beklagen, europäische Händler verdienten an „Putins Blutdiamanten“. Doch die EU-Regierungschefs lenkten auch bei diesem Gipfel nicht ein: Sie erklärten zwar vage, der Druck auf Russland solle erhöht werden, was auch „weitere mögliche“ Sanktionen einschließe. Aber konkrete Zusagen machten sie wieder nicht.

Diamantenimport aus Russland: Darum wehrt sich Belgien gegen ein Verbot

Denn die 27 Staaten der Europäischen Union müssen einstimmig über ihre Sanktionen entscheiden. Aber gegen ein mögliches Importverbot für Diamanten oder für Atombrennstoffe haben Mitgliedstaaten schon ihr Veto angekündigt. Bei den Diamanten blockiert allein Belgien: Es will seinen Diamanten-Handelsplatz Antwerpen – einer der größten weltweit – schützen.

Dort wird seit 500 Jahren mit den Edelsteinen gehandelt, mehr als 30.000 Jobs hängen daran. Vor dem Ukrainekrieg kam fast jeder dritte Rohdiamant, der in Antwerpen gehandelt wurde, aus Russland. Gesamtwert: rund 1,8 Milliarden Euro jährlich. Fast alle dieser Edelsteine stammten aus den Minen des Unternehmens Alrosa. Es gehört zu mehr als 30 Prozent dem russischen Staat und wurde bis vor kurzem von Sergej Iwanow junior geleitet, dem jüngsten Sohn eines ehemaligen KGB-Offiziers und Verteidigungsministers, der ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin ist.

Die Diamantenmine Nyurbinsky in Ostsibirien, die vom russischen Unternehmen Alrosa betrieben wird.
Die Diamantenmine Nyurbinsky in Ostsibirien, die vom russischen Unternehmen Alrosa betrieben wird. © AFP/Getty Images | Getty Images

Die Verbindung in den Kreml ist eng: Der Konzern soll für die russische Marine vor 30 Jahren sogar ein U-Boot finanziert haben, die B-871 Alrosa ist noch heute im Dienst. Auf Alrosa entfallen etwa 27 Prozent des Weltmarkts für Diamanten. Weit mehr als ein Drittel der russischen Exporte gehen nach Belgien. Doch ein Einfuhrverbot in die EU würde Russland gar nicht treffen, meint der Antwerpener Verband der Diamantenhändler (AWDC).

So argumentiert auch die belgische Regierung. Verarbeitung und Handel dieser Edelsteine würden dann einfach an andere Standorte verlegt. Die nach Belgien gelieferten Diamanten ließen sich von Russland problemlos per Flugzeug auch nach Dubai schicken, einem konkurrierenden Handelsplatz für Edelsteine, sagt Verbandssprecher Tom Neys. Die EU würde sich eines Zugangs zu Rohstoffen berauben, der Diamantenhandel in Antwerpen werde dauerhaft geschwächt. Und die strengen EU-Regeln gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung würden anderswo auch nicht gelten.

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Atom-Lobby wehrt sich gegen Russland-Sanktionen

Auch die Importeure von russischen Atom-Brennstoffen wehren sich vehement gegen Sanktionen. Ihr Fall ist viel brisanter: Der russische Nuklearkonzern Rosatom, einer der weltweit führenden Anbieter von angereichertem Uran und von Kernkraftwerken, baut in Ungarn zwei Atomreaktoren. Und er beliefert mindestens 18 Reaktoren in EU-Staaten mit Brennelementen – ungestört vom Kriegsgeschehen.

Die meisten dieser Atommeiler befinden sich in Osteuropa, sie wurden dort von sowjetischen oder russischen Unternehmen errichtet. Insgesamt kaufen EU-Staaten fast ein Fünftel ihres Nuklear-Brennstoffs bei Rosatom, die USA immerhin noch 14 Prozent. Vor allem bei einem der auch in der EU betriebenen russischen Reaktor-Modelle, dem VVER-440, ist Rosatom bei Lieferung und Wartung der Brennelemente nur schwer zu ersetzen.

Der ungarische Premierminister Viktor Orban droht mit einem Veto gegen ein mögliches Importverbot für russischen Atom-Brennstoff.
Der ungarische Premierminister Viktor Orban droht mit einem Veto gegen ein mögliches Importverbot für russischen Atom-Brennstoff. © AFP | Ludovic Marin

Der ungarische Premier Viktor Orban droht offen mit einem Veto: „Wir werden nicht zulassen, dass Kernenergie in die Sanktionen einbezogen wird“. Auch Frankreich ist gegen Sanktionen. Es bezieht sein Uran vor allem aus Kasachstan und Usbekistan, doch Rosatom kontrolliert den Transport durch Russland zum Ostseehafen St. Petersburg. Die Umweltorganisation Greenpeace prangert diese Abhängigkeit der französischen Atomindustrie als „skandalös“ an.

Bestimmte Sanktionen könnten der EU mehr schaden als Russland

Doch auch beim jüngsten Sanktionspaket verzichtete die EU-Kommission nach längerer Prüfung auf den Vorschlag, die Atombranche auf die Liste zu setzen. Es sei immer der Grundsatz gewesen, dass Sanktionen Russland mehr schaden müssten als der EU, heißt es im Rat der Mitgliedstaaten. Bei einem Brennstoff-Bann aber würden die betroffenen EU-Länder die weit größere Last tragen. Finanziell ist das Geschäft überschaubar: 2021 zahlte die EU 333 Millionen Euro für russisches, angereichertes Uran-235 – für russisches Rohöl und Ölprodukte dagegen 71 Milliarden Euro.

Die Ukraine sieht ein anderes, größeres Problem: Rosatom betreibe jetzt auch das besetzte Kernkraftwerk Saporischschja in der Ostukraine und sei damit „wesentlicher Teil der russischen Besatzungsarmee“, so der ukrainische EU-Botschafter Vsevolod Chentsov. Niemand könne ausschließen, dass die russischen Experten, die heute in Saporischschja arbeiteten, nicht morgen in einem AKW in der Slowakei oder in Bulgarien eingesetzt würden. „Wenn solche Personen nicht in die Sanktionsliste aufgenommen werden“, sagt Chentsov, „ist dies eine Herausforderung für die nukleare Sicherheit der Europäischen Union.“