Erfurt. Am Sonntag wird in Thüringen gewählt. Wie erklärt man dieses politisch umkämpfte Land in Deutschlands Mitte? Ein Thüringer versucht es.

Thüringen ist ein hübsches, aber auch ein schwer zu erklärendes Land. Klein an Fläche und Einwohnerzahl, aber groß an Kultur und Geschichte. Ausgestattet mit viel Lokalstolz, aber auch mit manchen unbewältigten Provinzkomplexen. Von links regiert, aber von rechts außen belagert.

Gut 2,1 Millionen Menschen leben zwischen Thüringer Wald, Südharz, Rhön, Eichsfeld und Vogtland, zwischen viel Fichten- und Buchenwald. Es ist ein Land, das als neu bezeichnet wird, aber doch alt ist – und das vor allem aus dem sogenannten ländlichen Raum besteht: ohne Metropolen, aber dafür mit vielen vormaligen Residenzstädtchen, die mehr schlecht als recht versuchen, ihre Theater, Museen und Orchester zu finanzieren.

Am Sonntag wird in diesem Thüringen der Landtag neu gewählt. Die einzige Regierung in Deutschland, die von der Linken geführt wird, hat derzeit in den meisten Umfragen keine Mehrheit mehr. Alle Infos zur Thüringen-Wahl in unserem News-Blog.

Thüringen-Wahl: Bodo Ramelow profitiert von seinem Amtsbonus

Rot-Rot-Grün besitzt nur dann eine gewisse Chance auf eine Fortsetzung, wenn die mit Abstand größte Partei der rot-rot-grünen Koalition ihr 28-Prozent-Rekordergebnis von 2014 wiederholt – und dies gegen einen katastrophalen Bundestrend.

In Sachsen und Brandenburg wurde die Linke gerade auf jeweils etwa zehn Prozent halbiert. Diese Chance hat einen Namen: Bodo Ramelow. Der einzige linke Regierungschef Deutschlands profitiert von seinem Amtsbonus und von dem Effekt, dass in den ostdeutschen Lagerwahlkämpfen gegen die AfD jeweils die Partei des Ministerpräsidenten gestärkt wird.

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Vielen ist ihr Grill wichtiger als die Weltpolitik

Aber dies allein erklärt nicht, warum die Linke am 27. Oktober erstmals zur stärksten Fraktion im Thüringer Parlament werden könnte – noch vor der CDU und einer AfD, die vom „Flügel“-Anführer Björn Höcke dominiert wird. Ramelow, auch dies zeigen die Umfragen, ist populär, obwohl er einer Partei angehört, deren wichtigster Vorgänger die SED ist. Warum ist das so? Eine Antwort lautet: Er hat es geschafft, seine Parteizugehörigkeit hinter diesem Amt verschwinden zu lassen – so wie auf seinen Wahlplakaten, auf denen zumeist das Logo der Linken fehlt.

Dennoch ist ein anderer Faktor noch wichtiger: Es ist der Heimatfaktor, der in Zeiten linker wie rechter Identitätspolitik besonders stark wirkt. Ausgerechnet der Niedersachse Ramelow, der in Hessen seine Gewerkschaftskarriere begann und 1990 in dieses kleine Land kam, ist inzwischen zum Thüringer geworden – so ganz und gar, dass es zuweilen übertrieben wirkt.

Ramelow hat nahezu jedes Dorf in Thüringen besucht

Er lebt mit Frau und Hund im Erfurter Eigenheim und fährt, so oft es geht, in seine Holzhütte im Wald, nahe der Saale-Talsperren, die er konsequent als „Thüringer Meer“ bezeichnet, obwohl dies selbst Einheimische spöttisch belächeln. Dort hackt er dann das Käferholz der 19 Fichten auf, die er auf seinem kleinen Waldbesitz fällen lassen musste.

In dem halben Leben, das der 63-jährige Ramelow in Thüringen verbrachte, hat er nahezu jedes Dorf, jeden Betrieb und jede Agrargenossenschaft besucht. Er kennt die Zahl der Arbeitsplätze in Neuhaus-Schierschnitz auswendig (1200) und weiß, wie viele Windräder im Wald bei Gefell stehen (zwei).

Ramelow wirkt authentischer als Mohring

CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring will Ramelow ablösen.
CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring will Ramelow ablösen. © Reuters | Michael Dalder

Das stellt ein zusätzliches Problem dar für die CDU, die Thüringen bis 2014 für nahezu ein Vierteljahrhundert regierte, aber nun zwischen dem linken Lager und der AfD aufgerieben zu werden droht. Dabei ist ihr Spitzenkandidat Mike Mohring im Unterschied zu Ramelow in Thüringen geboren, tief in seiner Heimatstadt Apolda verwurzelt und weiß auch sehr schön vom Duft einer selbst gegrillten Bratwurst zu erzählen.

Doch beim Authentizitätswettbewerb, der ja immer auch ein Wahlkampf ist, liegt Ramelow gefühlt vorne. Er wirkt nahbarer. Selbst seine notorische, fast aggressive Unbeherrschtheit, die er in unregelmäßigen Abständen sogar den Kameras vorführt, scheint ihm nicht zu schaden. Im Gegenteil: Sie macht ihn für nicht wenige nur noch glaubwürdiger.

Mohring will in Thüringen AfD verhindern und Linke ablösen

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    Der Thüringer schätzt seine organisierte Kleinteiligkeit

    Zum Leisetreten neigt der Thüringer an sich ohnehin nicht. Auf dem Land, das kennt man auch aus anderen Gegenden Deutschlands, werden Konflikte rustikaler ausgetragen. Man streitet sich, aber dann ist es auch wieder gut. Hauptsache, der Grill brennt. Ideologie, Parteizugehörigkeit, die große Weltpolitik: Das alles spielt hier eine geringere Rolle.

    Wenn man Thüringen verstehen will, kann man sich den selbst ernannten Freistaat als großen Landkreis vorstellen. Der Ministerpräsident ist eigentlich ein Oberlandrat, der einen Großteil seiner Zeit damit beschäftigt ist, sich mit den vielen kleineren Landräten zu streiten. Dies ist übrigens auch der wesentliche Grund dafür, weshalb der eigentlich sinnfällige Kreisreformplan von Rot-Rot-Grün in dieser Wahlperiode scheiterte – und das wohl für immer. So wie viele Berliner und Hamburger ihre Urbanität zelebrieren, schätzt der Thüringer seine organisierte Kleinteiligkeit.

    Auch Thüringen hat die typischen Ost-Probleme

    In Thüringen gibt es Landkreise, in denen, wenn die Bevölkerungsprognose recht behält, bald nur noch 40.000 Einwohner leben werden. Das ist verwaltungstechnisch grober Unfug, der Geld kostet, das Thüringen bald nicht mehr haben wird. Aber es ist eben von den Menschen gewollter Unfug. Da kann auch ein Ramelow nichts machen.

    Natürlich: Wo heute Thüringen ist, war früher die DDR. Das meiste, was sich über die Besonderheiten des Ostens sagen lässt, ließe sich auch über die Gegend zwischen Eisenach und Altenburg sagen. Die Zustimmung zur Demokratie ist hier niedriger als im Westen, die Angst vor der angeblichen Überfremdung höher. Bei allem, was erreicht wurde, sitzt die Enttäuschung über das Unerreichte tief. Und darüber, dass man die strukturelle Benachteiligung bei Löhnen und Führungspositionen akzeptieren soll. Aber Thüringen ist auch anders als der Rest Ostdeutschlands.

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      Bach, Goethe und der NSU – alle aus Thüringen

      Westlicher, weil es nicht nur an Sachsen und Sachsen-Anhalt grenzt, sondern auch an Bayern, Niedersachsen und Hessen – und weil, wie der einstige Ministerpräsidentenimport Bernhard Vogel gerne sagt, München nun mal östlich von Erfurt liegt. Es ist ein Land, in dem Bach, Luther, Goethe, Schiller, Nietzsche, Liszt, Zeiss und Abbe lebten, das wenige Arbeitslose hat und viele kleine, gesunde Unternehmen, aber auch das Land, in dem der NSU seinen Anfang nahm.

      Und es ist das Land, in dem wegen der gleichzeitigen Stärke von AfD und Linke die Mehrheiten noch ungewisser sind als anderswo – und in dem ab Sonntag das nächste politische Experiment bevorstehen könnte.