Berlin/Moskau. “Wir sind kein Fleisch! Wir sind kein Fleisch!“ Der Protest gegen Putins Krieg wird größer. Die Verzweiflung vieler Familien ist groß.

In den Nischen der sozialen Medien, die noch nicht kontrolliert sind von Wladimir Putins Machtapparat, verbreitet sich ein bitteres wie erschreckendes Angebot: „Wir helfen Dir, deinen Arm zu brechen“, schreibt ein Nutzer in einer eigens eingerichteten Gruppe im Messengerdienst Telegram.

„Es gibt viele schmerzfreie Wege“, heißt es dann noch. 1500 Rubel (27 Euro) nehme er für seine Angebote. Dazu postet er ein Bild einer Röntgenaufnahme, die einen zersplitterten Knochen zeigt. Das zynische Angebot: ein Armbruch als Schutz vor dem Kriegsdienst in der Ukraine.

Gut 300 Menschen abonnieren den Telegram-Kanal bisher. Es lässt sich schwer prüfen, wie ernst das Angebot ist. Doch es ist ein Indiz von vielen. Dafür, wie die Stimmung in Russland sich gegen die Mobilmachung und Putins Kriegspolitik wendet. Wie Angst und Wut unter den Russinnen und Russen wachsen. Bilder von Müttern und Vätern verbreiten sich im Netz. Sie weinen um ihre Söhne, die in Busse steigen. Auf dem Weg zur Rekrutierung.

„Mit der Mobilmachung betrifft der Krieg, den viele Russen verdrängt haben, plötzlich so gut wie jede Familie“, erzählt die 34 Jahre alte Zahnärztin Marina aus Moskau unserer Redaktion. Putins Entscheidung beherrsche die Gespräche auf Arbeit, im Freundeskreis, „selbst in der Metro reden wildfremde Menschen nur noch darüber.“ Der Bruder ihres Kollegen sei 24 und werde eingezogen. „Wir reden darüber, wie und wo ihn die Familie verstecken kann.“

Frauen verabschieden sich von ihren Männern und Söhnen, die eingezogen wurden.
Frauen verabschieden sich von ihren Männern und Söhnen, die eingezogen wurden. © action press | Vladimir Smirnov / TASS

„Wir sind kein Fleisch! Wir sind kein Fleisch!“

Am Wochenende ist es kühl in Moskau, es regnet. 100 Menschen kommen trotzdem ins Zentrum der russischen Hauptstadt. Sie demonstrieren gegen die Teilmobilmachung, angeordnet von der Kreml-Führung, um die Front im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu retten.

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Eine junge Frau mit beiger Herbstjacke und geblümtem Kopftuch steigt auf eine Bank und ruft: „Wir sind kein Fleisch!“ Sofort stürmen Einsatzkräfte heran, zerren sie weg. „Wir sind kein Fleisch! Wir sind kein Fleisch!“, ruft die Frau weiter, bis sie in einen der Transporter der Sicherheitskräfte verfrachtet wird. Immer wieder hört man von dort das Knacken von Elektroschockern. „Wir sind kein Kanonenfutter“, ruft eine andere Frau. Auch sie führen die Polizisten ab.

Hunderte Festnahmen registrieren Menschenrechtler in diesen Tagen in Russland. Und doch protestieren in vielen Städten Menschen gegen den Krieg in der Ukraine.
Hunderte Festnahmen registrieren Menschenrechtler in diesen Tagen in Russland. Und doch protestieren in vielen Städten Menschen gegen den Krieg in der Ukraine. © action press | Mikhail Tereshchenko / TASS

Es ist eine Szene von mehreren Protesten gegen die Einberufungen, die in ganz Russland zu beobachten sind. Es sind die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Russlands Einmarsch ins Nachbarland Ukraine. In der Provinz Jakutien, ganz im Osten des Landes, versammeln sich 200 Frauen und bilden einen Kreis auf dem Marktplatz einer Stadt, tanzen. In der Mitte: eine Gruppe Polizisten. Die Frauen rufen Parolen gegen den Krieg. Männer stehen etwas abseits, applaudieren.

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Denn viele Männer trauen sich auch deshalb nicht zu den Demonstrationen, weil sie Angst vor einer Festnahme durch die Polizei haben – die ihnen dann gleich den Einberufungsbescheid für die Armee ausstellt. So berichten es mehrere Medien und berufen sich auf Gespräche mit Russen vor Ort in den Städten.

Denn die Sicherheitsbehörden gehen vielerorts mit Härte gegen Demonstrationen vor. Videos aus der Ostsee-Metropole St. Petersburg zeigen, wie vermummte Polizisten mit Schlagstöcken auf Protestierende einschlagen. Die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info zählt allein an einem Tag am Wochenende landesweit mehr als 700 Festnahmen in mehr als 30 Städten, rund die Hälfte allerdings in Moskau.

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Putin hat die Mobilmachung ausgerufen – lässt jedoch die Grenzen noch offen

Zugleich fliehen viele Männer, die potenziell von den Behörden zum Kriegsdienst verpflichtet werden könnten. Russen teilen in den sozialen Netzwerken Aufnahmen von langen Staus an den Grenzen etwa zu Georgien oder Kasachstan, Augenzeugen berichten von stundenlangen Wartezeiten. Flüge in die Türkei oder Armenien sind ausgebucht und völlig überteuert, sogar ein Schwarzmarkt für Tickets soll es geben, berichtet die Moskauer Zahnärztin Marina.

In diese Länder dorthin können Russen ohne Visum ausreisen – anders als nach Deutschland. Am Samstag bestätigten die russischen Behörden erstmals eine Zunahme an Ausreisen. Kreml-Chef Putin hat die Mobilmachung ausgerufen – lässt jedoch die Grenzen noch offen. Anders als in der Ukraine, wo kriegsfähige Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen.

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Unsere Redaktion steht seit Tagen mit dem jungen Vladislav in Kontakt. Er war gleich zu Beginn des Krieges nach Armenien geflohen, im Sommer dann zurückgekehrt nach Russland. Nun aber will er wieder fliehen, weil auch er Angst hat, in den Krieg in der Ukraine ziehen zu müssen. Diesmal, so sagt er, versucht er es nach Usbekistan. Immer wieder berichten internationale und die wenigen Putin-kritischen Medien über diese Stimmen einer jungen Generation, die den Krieg des Kremls nicht mit verantworten will.

Und doch verschärft die Regierung angesichts des Widerstands gegen die Mobilmachung die Politik. Präsident Putin unterzeichnete eine Gesetzesänderung, die zu Zeiten einer Mobilmachung bis zu zehn Jahre Haft für Soldaten vorsieht, die desertieren oder vor dem Feind kapitulieren.

Militärexperten im Westen bezweifeln, dass diese Teilmobilisierung ausreicht

Doch so sehr die Kremlführung die Mobilmachung durchdrücken will – es passieren Fehler. Der Republikchef im sibirischen Jakutien räumt ein, dass auch Männer eingezogen wurden, die nicht unter die Mobilmachung fielen. Sie wurden demnach zurückgeschickt.

Sogar von offizieller Stelle wächst laut Medienberichten die Kritik: Der Chef des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, Waleri Fadejew, forderte demnach die Regierung auf, das „Knüppelsystem“ vieler Einberufungsstellen im Land zu beenden. Sogar Krankenschwestern und Hebammen ohne Militärkenntnis seien einberufen worden.

Mit der Teilmobilmachung will Putin nach eigenen Angaben 300.000 Russen für den Krieg in der Ukraine rekrutieren. Militärexperten im Westen bezweifeln jedoch, dass diese Maßnahme ausreicht, um nach den Rückschlägen in der Ukraine die Wende einzuleiten.

„Sie werden unsere Männer einziehen und als Kanonenfutter missbrauchen“

Laut einer Analyse des renommierten Institute for the Study of War in Washington würden viele ältere Männer mit gesundheitlichen Problemen an die Front geschickt. Die militärische Ausbildung sei mit wenigen Wochen viel zu knapp. Im Netz kursieren Videos über veraltete, teilweise rostige Gewehre, die nun ausgeteilt werden. Überprüfen lassen sich diese Nachrichten nicht.

Gleichzeitig zur Mobilmachung inszeniert der Kreml Referenden in den besetzten Gebieten in der Ukraine. Der Bürgermeister der besetzten Melitopol im Südosten der Ukraine fürchtet nun, dass die russische Armee auch Männer aus seiner Stadt zum Kriegsdienst zwingen könnte.

„Wir haben unseren Männern geraten, Melitopol Richtung Krim zu verlassen und von dort nach Georgien oder in die Europäische Union zu reisen. Aber jetzt sind die Stadt und die Dörfer in der Region abgeriegelt“, sagt Iwan Fedorow unserer Redaktion. „Sie werden unsere Männer einziehen und als Kanonenfutter missbrauchen. Wir haben das schon in Donezk oder Luhansk gesehen. Sie haben keine Chance, nein zu sagen.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.