Moskau. Viele Arzneien und Medizingüter sind in Russland nicht erhältlich - oder teurer als üblich. Selbst Zahnärzte müssen improvisieren.

Die Rentnerin Antonina, 63 Jahre alt, lebt in der russischen Provinz – in Samara, einer Stadt an der Wolga. Das Leben sei teuer geworden, erzählt sie. Besonders die Medikamente, die sie dringend braucht. „In der Apotheke ist alles da. Aber die Preise sind um 20 Prozent gestiegen“, sagt sie. Ihre Familie unterstütze sie finanziell, sonst käme sie nicht über die Runden. Dabei hat Antonina noch Glück. Die Medikamente, die sie nehmen muss, werden in Russland hergestellt. Andere, etwa aus dem Westen importierte Arzneien, sind zunehmend schwieriger zu bekommen.

Im Netz beklagen sich viele Kunden. „Wo ist Panadol Sirup für Kinder geblieben? Diese elementare Medizin ist aus den Apotheken verschwunden“, scheibt einer. Und ein anderer ergänzt: „Alles, was von der sowjetischen Pharmaindustrie entwickelt wurde, ging verloren, sie wurde vollständig von Importen abhängig. Die derzeitigen Apotheken sind eine kommerzielle Struktur, die auf Gewinn basiert und nicht auf der Entwicklung und Verbesserung von Medikamenten.“ Ein anderer Kunde schreibt sarkastisch: „Es beruhigt mich nur, dass ich 70 Jahre alt bin und nicht mehr lange lebe.“

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Auch in Moskauer Apotheken ist immer wieder die gleiche Szene zu erleben. Der Apotheker diskutiert mit der Kundschaft: Wie könnte man verordnete Medikamente durch andere, ähnlich wirkende ersetzen? Am besten durch solche, die er auf Lager hat. Eine Apothekerin vermutet, der Hauptgrund für den Engpass bei manchen Arzneien sei künstliche Verknappung. Die Leute würden alles aufkaufen und die Lieferanten hätten kaum mehr Zeit, ihre Lager aufzufüllen.

Online-Handel für Medikamente soll Lieferenpass beenden

In die Debatte um den Mangel an Medikamenten hat sich sogar Russlands Präsident Wladimir Putin eingemischt. Es sei notwendig, in einem bestimmten Zeitraum, insbesondere im Herbst und Winter, eine Reserve der beliebtesten Medikamente bereitzustellen. Und der russische Gesundheitsminister Mikhail Muraschko wiegelt ab. Es gäbe aktuell keinen Mangel an Medikamenten in russischen Apotheken, die Lieferketten hätten sich an die aktuelle Situation angepasst. Kurzfristige logistische Schwierigkeiten seien überwunden, so Muraschko.

Einen Ausweg aus möglichen Lieferschwierigkeiten sieht Russlands Führung im Online-Handel von Medikamenten. In den Regionen Moskau und Belgorod startet derzeit ein Pilotprojekt, das auf drei Jahre angelegt ist. „Im Rahmen dieses Pilotprojekts wird die Interaktion zwischen allen am Prozess Beteiligten – Ärzten, Apothekenorganisationen und Patienten – erarbeitet“, erklärt Muraschko im Pressedienst seines Ministeriums. Über 900 verschreibungspflichtige Medikamente sollen online vertrieben werden, allerdings keine Narkotika und Arzneimittel, die Alkohol enthalten. Möglichem Missbrauch will man vorbeugen.

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Medikamente werden immer teurer und viele Arzneimittel sind nicht erhältlich. Warum ist das so? Das hat das Online-Medium Meduza untersucht. Auf Basis von Daten der Statistikbehörde Rosstat errechnete Meduza bei Medikamenten, deren Verkaufspreise nicht staatlich kontrolliert sind, eine Preissteigerung um fast 18 Prozent. Die Preise von Arzneimitteln, die auf einer speziellen Liste „lebenswichtiger und unentbehrlicher“ Medikamente stehen, unterliegen der staatlichen Kontrolle. Doch auch sie sind um fünf Prozent teurer geworden.

Westliche Sanktionen verteuern Medikamente in Russland

Der Grund hierfür seien laut Meduza auch die westlichen Sanktionen, obwohl diese eigentlich nicht für Medizinprodukte gelten. Nicht nur Medikamente, sondern auch Verbrauchsmaterialien, Reagenzien und andere Güter, die für die medizinische Versorgung notwendig sind, würden nicht mehr geliefert. Betroffen sei auch die Zahnheilkunde, heißt es. So hätten westliche Unternehmen die Lieferungen ihrer Produkte nach Russland eingestellt. Die Folge: Zahnärzte können nicht mehr die üblichen Schleifscheiben und Zementsorten für die Zahnbehandlung verwenden und müssten nach Alternativen suchen.

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Kostja arbeitet seit sieben Jahren in der russischen Pharmaforschung. Er hat Verschwiegenheits-Verpflichtungen unterschrieben, seinen vollen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. „Es gibt Lieferprobleme und Probleme in der Produktion mancher Medikamente“, sagt Kostja. „Ausländische Firmen haben die Zulieferungen gestoppt.“ Und klar, dies habe auch mit den westlichen Sanktionen zu tun. „In manchen Fällen spielen sie nur eine Rolle, in anderen sind sie allein der Grund.“

Lieferstopp für Viagra ist kein Problem: genügend Alternativen

Die russische Pharmaindustrie sei abhängig von Vorprodukten und Maschinen aus dem Westen, erklärt Kostja. In der Forschung und Entwicklung würde zu wenig getan. Die russische Forschung und die des Westens, das sei wie der Vergleich zwischen einem Auto der Mercedes-S-Klasse und einem VW Polo. „Beide Autos können fahren - aber sie sind auf einem vollkommen anderen Niveau.“

In einem Punkt gibt Kostja allerdings Entwarnung. Seit Februar wird das Potenzmittel Viagra nicht mehr nach Russland geliefert. „Definitiv kein Problem“, sagt Kostja. „Es gibt verschiedene in Russland registrierte Generika, die auch verkauft werden.“ Und er fügt hinzu: „Das aber ist das geringste Problem, verglichen mit den Problemen unserer Pharmaindustrie und der Medizin im Allgemeinen.“

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