Cherson. Cherson ist befreit, doch aus der Stadt im Süden der Ukraine verschwindet das Leben. Viele wollen nur weg – weg vom Bombenterror.

Draußen steht der Passagierzug zwischen den beiden Reihen rostüberzogener Güterwaggons. Sie sollen Schutz bieten, wenn die russische Artillerie wieder vom anderen Flussufer wahllos nach Cherson hineinschießt. Drinnen sitzen in der kleinen Wartehalle schwer bewaffnete Polizisten auf einer Bank vor den sandsackbewehrten Fenstern und mustern die Menschen, die vor ihnen auf Stühlen sitzen – so kerzengerade, als würden sie verhört. Es ist aber kein Verhör. Die Polizisten registrieren Flüchtlinge, die sich in Sicherheit bringen wollen.

Cherson im März, an einem sonnigen Tag, der den kommenden Frühling erahnen lässt. Die Stadt im Süden der Ukraine ist still, die Straßen sind nahezu menschenleer. Zwischen März und November war Cherson von den Russen besetzt. Am 11. November zogen sie sich auf die gegenüberliegende Seite des Dnipro zurück, nachdem die ukrainische Artillerie ihre Nachschublinien zerstört hatte.

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Jetzt, so scheint es, wollen sich die Russen für die Schmach und den Jubel über die Befreiung rächen, indem sie die Zivilbevölkerung terrorisieren. Nahezu täglich beschießen sie die Stadt und die Region mit Mehrfachraketenwerfern und anderer Artillerie, nahezu täglich sterben Menschen oder werden verletzt. Viele halten den ständigen Beschuss nicht aus. Die Stadt blutet aus.

Der Bahnhof von Cherson ist ein pittoreskes, pastellfarbenes Gebäude, gebaut im Jahr 1907, zerschossen während der Besatzung, aufwändig renoviert nach der Befreiung. Von hier aus fuhren einmal Züge in die ganze Ukraine, weiter in den Süden auf die Krim, in den Norden nach Charkiw, in den Westen nach Lwiw und in die Hauptstadt. Nach der russischen Besetzung der Krim Jahr 2014 und dem Überfall im vergangenen Jahr sind nur noch die Strecken nach Kiew und Lwiw geblieben.

Züge fahren wieder, doch bleiben wollen die Menschen nicht

Um 13.27 Uhr trifft der Passagierzug aus Lwiw im Westen der Ukraine ein, pünktlich auf die Minute. Die Passagiere steigen aus, ziehen ihre Koffer hinter sich her, ein Soldat begrüßt seine Freundin mit einem Blumenstrauß. Viele der Ankommenden wollen nur kurz bleiben, aus ihren Wohnungen Habseligkeiten oder Dokumente holen, oder einfach nur schauen, ob ihre Häuser noch intakt sind.

Dumpfer Geschützdonner grollt, am anderen Ufer des Dnipro steigen schwarze Rauchwolken auf, offenbar hat die ukrainische Artillerie russische Ziele getroffen. Die Ukrainer versuchen die Russen weiter zurückzudrängen, außer Schussweite.

Das Bahnhofsgebäude von Cherson wurde nach der Befreiung der Stadt aufwändig renoviert.
Das Bahnhofsgebäude von Cherson wurde nach der Befreiung der Stadt aufwändig renoviert. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Halyna Kolesnykova lässt sich vom Grummeln des Krieges nicht stören, sie raucht am Bahnsteig mit einer Kollegin eine Zigarette. Der Bahnhof ist so etwas wie ein zweites Zuhause für sie, seit vier Jahrzehnten arbeitet sie hier in der Information. Während der bleiernen Monate der Besatzung hat Kolesnykova nicht gearbeitet. Sie ist fast immer zu Hause, geht lediglich mit ihrem Hund Gassi.

In Cherson lebt nur ein Fünftel der früheren Bevölkerung

Am 17. November ist sie zum ersten Mal wieder am Bahnhof. „Sie können sich nicht vorstellen, wie es hier aussah, überall war Müll, alles war kaputt, es gab keine Vorhänge mehr“, erzählt sie. Aber sie sei sehr glücklich gewesen. „Wir haben alles sauber gemacht, und jetzt ist unser Bahnhof wieder schön.“

Nicht nur die Vorhänge hängen jetzt wieder über den Fenstern. In den Wartehallen gibt es jetzt Aufladestationen für Mobiltelefone und Kohleöfen. Das war wichtig in den ersten Monaten nach der Befreiung, als Cherson ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser war. Es ist die Zeit, in der sich der Verkehr vor den Checkpoints aus der Stadt heraus staut und täglich Hunderte Menschen in den Bahnhof drängen. Alle wollen sich vor dem russischen Rachefeuer in Sicherheit bringen.

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Kolesnykova und ihre Kollegen versorgen die Flüchtlinge damals mit Kaffee und Tee, auch heute stehen immer heiße Getränke bereit. „Es ist vielleicht noch ein Fünftel der früheren Bevölkerung in Cherson“, schätzt die 60-Jährige. Sie will bleiben. Immerhin funktionieren jetzt in der Stadt Strom und die Wasserversorgung. „Das Wichtigste ist doch, dass wir zuhause und frei sind“, sagt sie. Wenn ihr schlechte Gedanken kommen, dann erinnert sie sich an den Jahreswechsel, als sie im Bahnhof einen Weihnachtsbaum hatten und Geschenke für die Kinder verteilt wurden. „Das war sehr schön.“

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Trotz Befreiung: Es gibt keine Jobs, Schulen sind geschlossen

In der Wartehalle sitzen neben normalen Passagieren aber auch diejenigen, die es nicht mehr aushalten. Heute sind es etwa 40 Flüchtlinge. Vitali Galka, Oksana Chabanova und ihre Kinder Anastasiia und Vlada sind gerade von der Polizei registriert und fotografiert worden. Auf den hölzernen Bänken warten sie auf die Abfahrt ihres Zuges. „Es ist zu gefährlich hier durch die permanenten Bombardierungen“, sagt Vitali Galka. Er ist 43, hat früher als Fahrer gearbeitet. Seine Lebensgefährtin ist 41, sie war Verkäuferin. „Das Geschäft ist aber zerstört worden.“

Nach der Befreiung, sagt Galka, hätten sie Hoffnung gehabt, besonders als der Strom wieder gekommen sei. „Aber jetzt sind alle unsere Freunde weggegangen, es gibt keine Jobs, die Kinder können nicht in die Schule oder in den Kindergarten, sie können noch nicht einmal draußen spielen.“ Deswegen fahren sie heute wie die anderen Flüchtlinge fast 700 Kilometer nach Nordwesten ins Landesinnere, nach Chmelnyzkyi. Sie haben Glück, können dort bei Verwandten unterkommen. Die Fahrt ist für sie kostenlos.

Die ukrainische Flüchtlingsfamilie Galka, Vater Vitalii, Mutter Oksana Chababova und die Kinder Anastasiia und Vlada.
Die ukrainische Flüchtlingsfamilie Galka, Vater Vitalii, Mutter Oksana Chababova und die Kinder Anastasiia und Vlada. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

In Chmelnyzkyi wollen sie zunächst schauen, dass Anastasiia wieder in die Schule gehen kann. „Darauf freue ich mich“, sagt die 12-Jährige. Die kleine Vlada soll endlich eingeschult werden. „Wenn alles ruhig ist, werden wir ganz sicher wieder zurückkommen“, sagt ihr Vater.

Menschen wollen ins Landesinnere – weg von den Bomben

Drei Frauen kümmern sich um die Flüchtlinge, sie sind eigentlich Lehrerinnen. Hinter einem Schreibtisch stapeln sich Lebensmittelpakete für die Fahrt. „Wir schreiben hier auf, was die Menschen brauchen, wenn sie in Chmelnyzkyi ankommen, also Medikamente, Geld, Unterkunft oder eine besondere Betreuung. Dann wissen unsere Leute Bescheid, was zu tun ist“, sagt eine der Helferinnen, die ihren Namen nicht nennen will. Immerhin: Die Flüchtlinge und die anderen Passagiere können heute in der Halle warten.

Es ist das erste Mal seit zwei Wochen, dass der Luftschutzkeller des Bahnhofs ungenutzt bleibt, ein nach frischer Farbe riechender Keller, in dem bis zu 80 Menschen hineinpassen, ausgestattet mit Wifi und einer Bar, an der es Tee und Kaffee gibt. Heute ist es vergleichsweise ruhig in Cherson.

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Um kurz nach 14 Uhr strömen die Flüchtlinge und die anderen Passagiere zum Zug. Die Waggons sind mit bunten Motiven bemalt. Es ist ein besonderer Zug, der „Zug zum Sieg“, und die Waggons stehen für ukrainische Gebiete, die noch unter russischer Besatzung sind. Die ukrainische Eisenbahn bietet symbolische Tickets an für diese Gebiete, nach Donezk zum Beispiel, nach Mariupol oder Luhansk. Die Tickets, heißt es, verkaufen sich sehr gut.

Bis zur Endstation Lwiw sind es etwa 950 Kilometer, eine Fahrt von etwa 20 Stunden. Die Abteile in den Waggons sind mit Schlafliegen ausgestattet. An den Fenstern klebt Plastikfolie. Es ist ein Schutz, falls während der Fahrt draußen Bomben detonieren. Dann könnte das Glas bersten und die Splitter könnten gefährliche Geschosse werden. Vitali Galka raucht eine letzte Zigarette auf dem Bahnsteig. Um 14.27 Uhr setzt sich der Zug quietschend in Bewegung. Pünktlich auf die Minute.

Halyna Kolesnykova verabschiedet sich von ihren Kollegen. Sie hat Feierabend. Heute wird kein Zug mehr von Cherson abfahren.