Nördlich von Soledar. Zwei Kilometer vor der Front treffen unsere Reporter Jan Jessen und Reto Klar einen Offizier mit deutschem Namen. Wer ist der Mann?

Der Soldat eilt im Laufschritt schwer atmend und schwitzend heran, wuchtet die schwere Granate in das schwarze Rohr des Mörsers. Der Kommandant kontrolliert noch einmal die Koordinaten auf seinem Tablet, ruft laut „Achtung“, tritt einen Schritt zurück. Der Mörser bellt auf, es ist ein trockener, heller, ohrenbetäubend lauter Knall. Auf seinem Tablet kann der Offizier sehen, wo das Geschoss keine zwei Kilometer südlich einschlägt, eine Drohne übermittelt die Bilder live. Der Soldat bringt die nächste Granate. Innerhalb weniger Minuten feuern sie den Mörser sieben Mal ab. Dann meldet sich ein Vorgesetzter über Funk. Kommandant Scholz kann eine Pause einlegen. Scholz? Wie der deutsche Bundeskanzler? Genau. Doch dazu später.

Soledar im Osten der Ukraine. Seit Mitte Januar besetzen russische Streitkräfte die Kleinstadt, die für ihr gewaltiges Salzbergwerk bekannt ist. Bei den wochenlangen Gefechten, die der Einnahme vorausgehen, wird Soledar fast vollständig zerstört, nur noch wenige hundert der ehemals mehr als 11.000 Einwohner harren in der Ruinenlandschaft aus.

Ukraine-Krieg: Soldaten haben sich in den zerschossenen Häusern eingerichtet

Die Dörfer nördlich der Stadt sind noch unter ukrainischer Kontrolle. Vor vielen Häusern stehen Militärfahrzeuge, Soldaten haben sich in den Gebäuden eingerichtet, die von ihren Besitzern verlassen wurden. Jedenfalls in denen, die noch bewohnbar sind. Häufig klaffen Löcher in den Wänden, sind die Dächer eingestürzt. Vor anderen Häusern sitzen noch Zivilisten, ältere Menschen zumeist, sie wirken so ausgelaugt wie ihre Dörfer.

Eine Mörserstellung nördlich von Soledar im Osten der Ukraine, zwei Kilometer entfernt von der Front. Unter der Leitung von Kommandant Scholz starten die Soldaten hier Entlastungsgriffe für Bachmut.
Eine Mörserstellung nördlich von Soledar im Osten der Ukraine, zwei Kilometer entfernt von der Front. Unter der Leitung von Kommandant Scholz starten die Soldaten hier Entlastungsgriffe für Bachmut. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nikita steuert den verschlammten Geländewagen über die von Kratern übersäte Straße, das Fenster hat er leicht geöffnet, um zu hören, wenn Gefahr droht. „Wenn ihr es zischen hört, wenn wir draußen sind, schmeißt euch hin“, sagt Yuriy, der hinten sitzt. Die beiden jungen Männer sind Presseoffiziere der 10. Gebirgsjäger-Sturmbrigade, die seit Beginn des russischen Überfalls im Osten der Ukraine unter anderem in Mariupol und in Bachmut in heftige Kämpfe verwickelt war.

Ukraine: Präsident Selenskyj gab der Brigade den Ehrentitel „Edelweiß“

Am 14. Februar verlieh der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi der Brigade den Ehrentitel „Edelweiß“, was in Moskau für helle Empörung sorgte, da im Zweiten Weltkrieg eine am Überfall auf Russland beteiligte Wehrmachtsdivision ebenfalls diesen Namen trug. Die Namensvergabe sei ein Indiz für die Nazi-Gesinnung der ukrainischen Regierung in Kiew. Jedoch verwenden viele andere Gebirgsjäger-Einheiten in Europa die Edelweiß-Blume als Symbol, selbst eine Spezialeinheit der russischen Nationalgarde firmierte zwischen 2011 und 2016 unter diesem Namen.

In einem ehemaligen Kartoffelkeller haben die Soldaten Matratzen gelegt, um etwas Ruhe zu finden.
In einem ehemaligen Kartoffelkeller haben die Soldaten Matratzen gelegt, um etwas Ruhe zu finden. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Je näher es Richtung Soledar geht, desto lauter wird die Geräuschkulisse des Krieges. Es knallt unaufhörlich. Nikita fährt den Wagen auf den Hof eines kleinen Gehöftes, parkt unter einem Baum. „Jetzt schnell!“, sagt Yuriy, „bloß nicht stehen bleiben“. Er zeigt nach oben. Auch die Russen haben Drohnen. Wir eilen auf die andere Straßenseite, zu dem Bauernhof, in dem Kommandant Scholz und seine Leute ihre Stellung bezogen haben.

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Im stickigen Kartoffelkeller liegen ihre Matratzen eng aneinander

Am Rande eines kleinen Obstgartens steht die Waffe der Einheit, ein von Frankreich gelieferter 120 Millimeter-Mörser, umgeben von einem Tarnnetz. In einem überdachten Unterstand lagern die Granaten. Als der Befehl zum Einstellen des Feuers kommt, hasten die Soldaten zu einem Schuppen, dort haben sie sich eingerichtet. Ein verschlissenes Sofa, ein Tisch mit alten Stühlen, die Gewehre hängen nachlässig an den Betonwänden. Sie haben hier eine kleine provisorische Küche mit einem Wasserkocher, es gibt Tee und Kaffee. In einem feuchten, stickigen Kartoffelkeller liegen ihre Matratzen eng an eng, besser allemal, als die Erdlöcher, die sie sich andernorts graben mussten.

Kommandant Scholz trägt im Einsatz den Namen des deutschen Bundeskanzlers, weil seine Kameraden sagten, er sähe so deutsch aus. Auf Namenvetter Olaf Scholz lässt er nichts kommen.
Kommandant Scholz trägt im Einsatz den Namen des deutschen Bundeskanzlers, weil seine Kameraden sagten, er sähe so deutsch aus. Auf Namenvetter Olaf Scholz lässt er nichts kommen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Männer atmen durch. Der Adrenalinschub der vergangenen Minuten lässt nach. Erschöpfung macht sich breit. Kommandant Scholz, ein schlaksiger Mann mit hagerem Gesicht, hält zwischen seinen ölgeschwärzten, zitternden Fingern eine Zigarette, er zieht den Rauch tief und hastig ein. Er heißt natürlich nicht wirklich Scholz, das ist sein Funkname. Er grinst. Ja, genau wie der deutsche Kanzler. Er nestelt sein Telefon aus der Jacke, zeigt ein Foto. Darauf ist er mit einem deutschen Gefechtshelm zu sehen. „Deswegen und weil meine Nase so lang ist, haben alle gesagt, ich sehe wie ein Deutscher aus.“ Also hatte er seinen Kampfnamen weg.

Auf seinen Namensvetter Olaf Scholz lässt er nichts kommen

Von seinem deutschen Namensvetter Olaf Scholz könne er nichts Schlechtes sagen, sagt der Mittdreißiger, es wäre nur schön, wenn der Bundeskanzler mehr Waffen liefern könnte. „Wir brauchen mehr Leopards, wenn er uns viele Panzer schickt, dann nennen wir alle unsere Kinder Scholz.“ Die Männer lachen. Auf die vom Westen zugesagten Panzer setzen sie viel Hoffnung. Mit ihnen könnte eine erfolgreiche Gegenoffensive gestartet werden, glauben sie, dann, wenn es nicht mehr so schlammig ist, vielleicht Ende Mai, Anfang Juni. Derzeit sind es die Russen, die kleine Geländegewinne machen.

Die Geschosse der Einheit nahe Soledar stammen aus Frankreich.
Die Geschosse der Einheit nahe Soledar stammen aus Frankreich. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Männer der Mörsereinheit sind im Raum Soledar seit zwei Monaten pausenlos im Einsatz. „Wir können es uns nicht leisten, auszuruhen“, sagt Scholz. Sie geben von hier aus der Infanterie Feuerschutz, die zweitausend Meter entfernt mit den Russen kämpft. Es sind Entlastungskämpfe, um das 15 Kilometer südwestlich gelegene Bachmut vor der drohenden Einnahme durch die Streitkräfte aus Russland zu retten. Dort rücken die Russen von Norden und von Süden vor, der Ostteil der Stadt ist unter ihrer Kontrolle. Seit dem vergangenen Sommer wird um Bachmut gekämpft, Tausende sind dort gestorben. Auch für die Russen eine extrem verlustreiche Schlacht. Selenskyj sagte, in weniger als einer Woche seien 1100 feindliche Soldaten allein in Bachmut getötet worden. 1500 russische Soldaten so schwer verletzt worden, dass sie nicht mehr einsatzfähig seien. Die Stadt ist inzwischen völlig verwüstet.

Die strategische Bedeutung Bachmuts sei überschaubar, sagen manche

Es gibt ukrainische Militärs, die es für verkehrt halten, für die weitgehend zerstörte Stadt weitere Soldaten zu opfern. Die strategische Bedeutung Bachmuts sei überschaubar, sagen manche, nur für ein Symbol sollten keine Männer mehr sterben. Kommandant Scholz sieht es anders. „Die Situation ist fürchterlich, aber wir können es doch nicht zulassen, dass uns die Russen noch mehr von unserem Land wegnehmen.“ Seine Männer nicken verhalten.

Vor dem russischen Überfall hat der Kommandant im Westen der Ukraine Milch gefahren, es ist ein Leben, an das er sich fast nicht mehr erinnern kann. Direkt nach dem Beginn der großen Invasion hat er sich freiwillig gemeldet, seine Frau und seine beiden Jungs sind jetzt in den USA. Scholz kämpft. Was der Krieg mit ihm gemacht hat? Er zuckt mit den Schultern, beugt sich nach vorne, geht nicht auf die Frage ein. „Es ist unser Land, und unsere Leute werden es bis zum letzten Schuss verteidigen.“

Kommandant Scholz: „Wir brauchen mehr Munition“

Aber der Krieg verändert auch die Soldaten. Immer seltener trifft man auf Militärs, die voll wilder Entschlossenheit sind. Ein junger Unteroffizier, der als Infanterist bei Bachmut gekämpft und dort drei Männer verloren hat, sagt uns, seine Werte hätten sich verändert. Er reagiere gleichgültiger, wenn er erfahre, dass jemand gestorben sei. Gleichzeitig wolle er niemandem mehr unnötiges Leid zufügen, wenn es sich verhindern lasse. Wenn sie einen russischen Gefangenen machten, habe er nicht das Bedürfnis, ihm etwas anzutun: „Das war am Anfang des Krieges anders. Da war ich voller Hass und dem Wunsch zu töten. Jetzt mache ich einfach nur meinen Job.“

Die Soldaten der 10. Gebirgsjäger-Brigade nördlich von Soledar im Osten der Ukraine.
Die Soldaten der 10. Gebirgsjäger-Brigade nördlich von Soledar im Osten der Ukraine. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Kommandant Scholz macht sich gerade vor allem Gedanken darüber, dass die französischen Granaten nicht vernünftig funktionieren. Vier der sieben Geschosse, die sie vorhin abgefeuert haben, sind beim Aufprall nicht explodiert. Woran das liegt, kann er nicht sagen, vielleicht an der Kälte der vergangenen Wochen. „Wir brauchen mehr Munition“, sagt er. „Wir beschützen hier unsere Jungs. Bekommen wir mehr Munition, können wir Leben retten.“ Dann geht wieder das Funkgerät. Scholz und seine Männer müssen wieder an die Arbeit. Den Tod zum Feind bringen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt