Odessa. Odessa, die ukrainische Hafenstadt, hat ein einzigartiges Tunnelsystem. Jan Jessen und Reto Klar (Fotos) haben die Katakomben besucht.

Das Licht einer nackten Glühbirne leuchtet die kleine Nische hinter dem Vorhang aus, eine rote und eine blaue Matratze tauchen aus dem Dunkeln auf, schwarze Plastiksäcke, Isomatten. Die Wände glänzen nass. Es ist kühl und feucht hier unten zwanzig Meter unter Odessa, aber die Luft ist sauber und frisch, weil sie über die alten Rohre aus Sowjetzeiten hineingeleitet wird, und vor allem ist es hier sicher, wenn wieder die Raketen auf der Erdoberfläche einschlagen.

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Diese Katakomben sollten einmal Schutz vor einem Atomangriff bieten. Jetzt schützen sie die Menschen in der Hafenstadt am Schwarzen Meer vor den Luftschlägen, mit denen die russische Armee die Ukraine terrorisiert.

Odessa Anfang Juni. Die Sonne strahlt, nur vereinzelt sind Wolken zu sehen. Auf den breiten von Bäumen gezäumten Straßen und Boulevards herrscht wenig Verkehr, viele der über eine Million Einwohner haben die Stadt verlassen, als der Krieg Ende Februar begann. Diejenigen, die geblieben sind, wirken in diesen Tagen entspannt und gelöst, auch wenn immer wieder Sirenen heulen und vor drohenden Luftangriffen warnen.

In den Parks von Odessa genießen die Menschen das gute Wetter

Etliche Cafés und Restaurants haben geöffnet und sind gut besucht, in den Parks genießen Menschen das gute Wetter. Touristenführer buhlen um Kundschaft. Eine der wichtigsten Attraktionen der Stadt, die weltberühmte Potemkinsche Freitreppe, ist aber nicht zugänglich, der Zugang zum Hafenbereich ist militärisches Sperrgebiet.

Odessa hat eine enorme strategische Bedeutung. Die Stadt ist der wichtigste Hafen für die Ukraine, ein Großteil der Getreideexporte wurde vor dem Krieg über ihn abgewickelt. Jetzt wird er von russischen Kriegsschiffen blockiert, die Arbeit auf den Docks ist eingestellt worden.

Nachdem mit Mariupol bereits die ebenfalls bedeutsame Hafenstadt am Asowschen Meer in russische Hände gefallen ist, käme die Einnahme Odessas einem wirtschaftlichen Genickbruch gleich.

Für die russische Armee ist das Tunnelsystem eine große Herausforderung

Im März schien es, als könne die Stadt zum direkten Ziel der russischen Aggression werden, die Truppen Moskaus standen damals kurz vor Mykolaiv, 140 Kilometer weiter östlich. Wäre diese Stadt gefallen, wäre der Weg von Osten aus nach Odessa frei gewesen. Jedoch würde eine Schlacht in der Hafenstadt die Angreifer vor enorme und kaum lösbare Herausforderungen stellen. Und das liegt auch an der Stadt unter der Stadt.

Auf einem Werkstattgelände im Stadtteil Moldowanka steht eine unscheinbare blaue Metallhütte, der Lack blättert an vielen Stellen ab, sie rostet. Davor wartet Oleksandr Ladnyuk. Er ist eigentlich Ingenieur und hat in der Chip-Herstellung gearbeitet.

Seit dem Beginn des Kriegs hilft der 49-Jährige den Menschen in Odessa dabei, mehr Sicherheit zu haben. „Bomboukryttya“ steht in kyrillischen Buchstaben auf einem Zettel an der Tür, „Luftschutzraum“. Die Unterwelt, in die Ladnyuk führt, ist jedoch mehr als nur ein Raum. Sie ist ein Labyrinth.

Nachdem Odessa auf Befehl Katharinas der Großen Ende des 18. Jahrhunderts gegründet worden war, wuchs die Stadt rasch zu einem pulsierenden Handelsort. Das Material für den Bau der Straßen, der Bürgerhäuser, der prächtigen Verwaltungsgebäude und des Hafens holten Bergleute aus der Erde direkt unter der Stadt. Die Gegend ist reich an Kalk- und Sandstein. Die Arbeiter trieben unzählige Stollen in den Untergrund, bis zu einer Tiefe von sechzig Metern.

In den Tiefen der Katakomben gibt es sogar eine Bar

Es sind genau einhundert Stufen hinunter, die Temperatur sinkt merklich. „Die Sowjets haben diese Katakomben zu Bunkern ausgebaut, die vor einem Nuklearangriff schützen sollten. Über uns sind etliche Meter Stahlbeton, die halten jede Explosion aus“, erzählt Ladnyuk.

Alexander Ladnyuk führte Reporter Jan Jessen und Fotograf Reto Klar durch die Katakomben.
Alexander Ladnyuk führte Reporter Jan Jessen und Fotograf Reto Klar durch die Katakomben. © Funke Foto Service | Reto Klar

Seit dem 24. Februar sind die alten Tunnel zu einem Zufluchtsort geworden. Sie haben Möbel aus Paletten zusammengezimmert, Säcke voller Kleidung und Wasser heruntergebracht. Sogar eine Art kleiner Bar haben sie aufgebaut. Besonders stolz ist Ladynuk auf eine Station für Mobiltelefone. Legt man das Telefon auf sie, verbindet ein Kabel es mit dem Internet.

Der 49-Jährige geht voran in das Tunnelsystem. Ohne einen ortskundigen Führer wäre es lebensgefährlich, die Stollen zu betreten, so unübersichtlich ist das System. „Wir müssen hier immer wieder Leute suchen, die verschwunden sind.“ In kleinen Verschlägen stehen Bio-Toiletten. Schlimmstenfalls könnten die Menschen hier unten mehrere Tage ausharren.

Die russische Armee attackierte Odessa im März von der Krim aus

Das System ist etwas mehr als zwölf Kilometer lang. Es bietet Platz für 1000 Menschen. „Als Putin uns am 9. Mai beschossen hat, waren hier ungefähr 300 Menschen“, sagt Ladynuk.

An diesem Tag attackierte die russische Armee Odessa auch mit Raketen von der Krim aus, die etwa 350 Kilometer weiter östlich liegt. In Kopfhöhe ziehen sich verrostete Rohre durch die Tunnel. Über sie wird gefilterte Luft hier runter geführt. Manche Gänge sind beklemmend eng, andere enden in einer Sackgasse.

Wenn die Russen Odessa tatsächlich mit Bodentruppen angreifen sollten, würden sie hier auf massive Probleme stoßen. Wie schwierig es für Angreifer ist, wenn sich Verteidiger in den Untergrund zurückziehen, hat sich bereits in Mariupol gezeigt, wo Tausende Kämpfer der 36. Marinebrigade und des Asow-Regiments über Wochen in den Bunkern tief unter dem Asow-Stahlwerk Widerstand leisteten.

Die Tunnel-Systeme unter Odessa haben eine Gesamtlänge von über 2500 Kilometern, erzählt Ladnyuk. „Überall sind verborgene Eingänge, die nur wir kennen, man kann die Systeme nicht einfach versiegeln.“ Nicht alle Tunnel dienen nur dem Schutz von Zivilisten. In anderen sollen Vorräte und Waffen für den Verteidigungsfall gebunkert worden sein.

„Wer sich nicht auskennt, geht schnell verloren“

Aus ihnen heraus könnte auch angegriffen werden. Und wenn die Russen in die Tunnel eindringen würden? Ladynuk überlegt kurz. „Wer sich hier unten nicht auskennt, geht schnell verloren.“

Was ihn zurzeit mehr umtreibt, ist die Stromversorgung. Noch liegen zu viele der Tunnel in tiefer Dunkelheit. „Wir brauchen dringend Dieselgeneratoren“, sagt der 49-Jähre. Und wenn der Krieg irgendwann vorbei sein sollte, dann „werden wir hier unten eine große Party feiern“.

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