Berlin. Russland greift mit Drohnen Kraftwerke in der Ukraine an. Für die Menschen ist das ein Desaster. Und für den Kriegsverlauf brisant.

Es gibt dieses Video, das den ukrainischen Kampfgeist symbolisiert. Eine Straßenbahn fährt über eine Kreuzung in einer ukrainischen Stadt – gezogen von einem Trecker, der sonst vielleicht Kornfelder bestellt. Dazu der Kommentar: „Keine Energie, kein Problem. Ukrainische Straßenbahnen fahren trotzdem nach Plan.“

Die Echtheit des Videos lässt sich schwer prüfen. Doch wichtiger ist ohnehin die Wirkung, das Signal: Die Menschen in der Ukraine kämpfen – und wollen ihre Widerstandskraft auch nicht durch Wladimir Putins jüngste Angriffe auf die Energieversorgung brechen lassen.

Ukraine: Am Dienstag offenbar mehr als 1100 Orte im Land ohne Strom

Die Frage jedoch ist, ob die Ukrainerinnen und Ukrainer durchhalten. Und wie lange sie es tun, wenn der Winter mit eisigen Temperaturen eintritt. Seit einigen Tagen treffen russische Raketen Kraftwerke in der Ukraine. Laut einem Bericht des US-Senders CNN geht die Regierung in Kiew davon aus, dass zu Beginn der Woche 30 Prozent der Energie-Infrastruktur durch russische Angriffe defekt waren.

Mittlerweile sollen es 40 Prozent sein, allein am Mittwoch sollen drei Kraftwerke attackiert worden sein. Und die Bombardements gehen weiter. Vor allem in den ostukrainischen Metropolen Charkiw und Donezk, im Süden bei Cherson, aber auch in der Hauptstadt Kiew gibt es Einschläge. Laut staatlicher Stellen waren am Dienstag mehr als 1100 Orte im Land ohne Strom.

Bewohner in Kiew: Keine Elektrogeräte zwischen 23 und 7 Uhr

Am Donnerstag reagierte Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj und drosselte die Stromversorgung im Land für einige Stunden. „Wir werden alles tun, um die normale Energieversorgung unseres Landes wiederherzustellen“, sagte er. „Aber es braucht Zeit und unsere gemeinsamen Anstrengungen mit Ihnen.“

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Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko bat alle Bewohner, Elektrogeräte im Haushalt zwischen 23 Uhr und 7 Uhr morgens auszuschalten. Jede Kilowattstunde zählt. Der Energieversorger Ukrenergo appellierte an die Menschen, die Vorräte an Wasser aufzustocken und „warme Socken und Decken für Familie und Freude“ zu besorgen. „Wir schließen nicht aus, dass wir mit dem Einsetzen der Kälte öfter um Ihre Hilfe bitten werden.“

Kupjansk, Ukraine: Eine Frau kocht auf einem offenen Feuer. Viele Häuser der Stadt im Osten des Landes sind ohne Strom und Gas.
Kupjansk, Ukraine: Eine Frau kocht auf einem offenen Feuer. Viele Häuser der Stadt im Osten des Landes sind ohne Strom und Gas. © ddp/abaca press | aa

Attacken auf Energieversorgung: „Kriegsverbrechen“ und „reine Terrorakte“

Russland nutzt für die Angriffe auf Versorgungswege für Strom, Wasser, Heizung offenbar vor allem iranische bewaffnete Drohnen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von „Kriegsverbrechen“, nennt Russlands Vorgehen „reine Terrorakte“. US-Präsident Joe Biden sieht im Drohnen-Kampf ein Zeichen der Schwäche Russlands, das nun „brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung“ fahren müsse, um eine Kapitulation herbeizuführen.

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Die russische Strategie ist nicht neu, wie Militärfachleute hervorheben. „Russland setzt jetzt dort fort, wo man im Mai aus Munitionsmangel aufgehört hat“, sagt Gustav Gressel, Senior Fellow am European Council on Foreign Relations. „Man greift nicht nur den militärischen Gegner an, sondern bombardierte gezielt die Menschen in dem Land, die Energieversorgung, Heizkraftwerke, Krankenhäuser und Schulen. Das kennen wir eigentlich schon aus Syrien, und dasselbe passiert jetzt auch in der Ukraine.“

Wie in Syrien: Russland greift Energieversorgung, Krankenhäuser und Schulen an

Bis in den Mai hatte das russische Militär Infrastruktur gezielt ins Visier genommen. Dann wurde die Munition knapp. Ohnehin wird deutlich, dass Russlands Armee einen Mangel an Raketen und anderen schweren Kriegswaffen überbrücken muss. „Iranische Drohnen sind billig, schnell zu haben und in hoher Zahl produzierbar“, sagt Militärexperte Gressel.

Und die Auswirkungen dieses intensiven Drohnenkrieges können verheerend sein – vor allem für die Menschen in dem Land. Schon jetzt sind mehr als sechs Millionen Menschen in der Ukraine auf der Flucht, fast 18 Millionen laut dem Internationalen Roten Kreuz auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Ukraine-Krieg: Winter wird laut Flüchtlingshelfer „zur Bewährungsprobe“

Schon jetzt ist Feuerholz knapp, Leitungen für Wasser in Wohngebiete sind zerstört, Hilfsorganisationen richten durch Raketenangriffe zerstörte Turnhallen und Hotels notdürftig wieder, um Geflüchtete dort im Winter einzuquartieren.

Vor neuen Fluchtbewegungen auch Richtung Westeuropa hatte der Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes, Christian Reuter, unlängst in einem Gespräch mit unserer Redaktion gewarnt. Sollte sich die militärische Lage zuspitzen, sagte Reuter. Genau das passiert jetzt mit den russischen Angriffen auf die Infrastruktur. „Der Winter wird zu einer Bewährungsprobe, die wir nur mit der Unterstützung anderer Länder bestehen können“, sagt ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerk unserer Redaktion.

Hilfsorganisationen in der Ukraine: Wege zu den Notleidenden werden gefährlicher

Und auch Wohngebiete sind von den Einschlägen durch Kampfdrohnen betroffen. Die Folge: Hilfsorganisationen, die nun dringend die Menschen versorgen müssen, ziehen ihre Mitarbeitenden ab. Aus Angst um deren Leben. So etwa der große Caritas-Verband. 60 Helfende hat die Organisation aus der besonders von den Kämpfen betroffenen Stadt Mariupol abgezogen.

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Die Direktorin in der Ukraine berichtet, wie auch die Mitarbeiter immer öfter über Stunden in Luftschutzbunkern Zuflucht suchen müssen. Genau wie Zivilisten in dem Land. Die Wege zu den Notleidenden werden für Hilfsorganisationen immer gefährlicher.

Feuerwehrleute an der Front: Kampf gegen die Folgen der russischen Drohnenangriffe auf Infrastruktur in der Ukraine.
Feuerwehrleute an der Front: Kampf gegen die Folgen der russischen Drohnenangriffe auf Infrastruktur in der Ukraine. © UPI/laif | UK2022101821_lg UPI/laif

Ukraine: Großer Teil der Windkrafträder und Solaranlagen zerstört

Fotos aus Kiew zeigen, wie in Teilen der Stadt nachts die Beleuchtung ausfällt, die Straßen und Häuser dunkel sind. Andere Videos dokumentieren die Angriffe auf Kraftwerke, Sprengsätze detonieren, Rauchwolken steigen auf.

Besonders im Fokus: Europas größtes Atomkraftwerk nahe der südukrainischen Stadt Saporischschja, das aufgrund der Kämpfe mehrfach vom Stromnetz abgetrennt war und mithilfe von Notaggregaten betrieben werden musste. Was jedoch bisher wenig berichtet wird: Auch ein großer Teil der ukrainischen Windkrafträder sowie großflächige Solaranlagen wurden durch den russischen Angriffskrieg zerstört.

Krieg gegen die Ukraine: Energiemangel gefährdet Waffenlieferungen

Der Mangel an Strom ist auch für das ukrainische Militär brisant. „Die Armee benötigt zum einen Strom für die Kommunikation über Mobilnetzwerke und Funk, zum anderen ist Energie wichtig für die ukrainische Rüstungsindustrie und das Reparieren von Militärgerät“, sagt Experte Gressel.

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Auch für die Kriegslogistik sei ein Energiemangel gefährlich. „Viele Waffenlieferungen aus dem Westen kommen im Westen der Ukraine an, und werden von dort per Eisenbahn an die Front im Osten transportiert. Doch die ukrainische Bahn fährt überwiegend mit Strom und weniger mit Diesel.“

Experte: Angriffe auf Energieversorungen keine Wende im Krieg

Die ukrainische Armee hatte zuletzt einige Gelände von den russischen Angreifern zurückerobern können. Doch immer wieder stockt die Gegenoffensive, vor allem dann, wenn Nachschub an Waffen und Munition fehlt.

Allerdings gilt auch: Die Ukraine konnte sich bereits auf diese Kriegsszenarien vorbereiten. Kraftwerke laufen mit Dieselgeneratoren, auch das Militär arbeitet mit Notstromaggregaten, Diesel-Lokomotiven kommen für den Transport vermehrt zum Einsatz. Und auch hier hilft der Westen. Länder wie Großbritannien und Spanien etwa liefern Generatoren. Eine Wende im Krieg sieht Militärexperte Gressel nicht. Er sagt: „Die ukrainische Armee hat immer noch die Initiative.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.