Posad. Posad-Pokrovske ist schwer zerstört. Seitdem sich russische Truppen zurückgezogen haben, wollen die Einwohner ihr Dorf wieder aufbauen.

Die Wohnhäuser. Das Kulturzentrum. Die Schule. Der Kindergarten. Die drei Gaststätten. Die drei Tankstellen. Die alten Birken am Straßenrand. Alles ist zerstört, zerfetzt, zerrissen. Es sieht aus, als habe ein gewaltiger Sturm das kleine Dorf im Süden der Ukraine heimgesucht. Die Krater auf den lehmigen Schotterpisten, die Einschusslöcher in den Wänden, die Schrapnelle, die verbogenen, verkrümmten Hülsen der Raketen aber zeigen, es ist schlimmer: Hier hat der Krieg gewütet.

Doch obwohl Posad-Pokrovske so lebensfeindlich erscheint wie der Mond, gibt es hier Menschen, die an eine Zukunft glauben, die ihr Dorf nicht verloren geben. Posad-Pokrovske fließt links und rechts der M14 in die Steppe hinein. Es ist ein einfaches Straßendorf. So unbedeutend, dass die Invasoren in schier endlosen Kolonnen einfach ohne Halt hindurchfuhren, als sie Ende Februar, Anfang März versuchten, von Cherson aus Richtung Nordwesten nach Mykolajiw vorzustoßen.

Doch das misslang. Die Soldaten des russischen Präsidenten Putin erlitten schwere Verluste, mussten sich zurückziehen und gruben sich in einer Anhöhe gegenüber von Posad-Pokrovske ein. Im Dorf verschanzten sich ukrainische Soldaten. Plötzlich steckte der kleine Ort mitten im Krieg, als ein Schauplatz erbitterter Kämpfe.

Das völlig zerstörte Dorf Posad-Pokrovske bei Cherson.
Das völlig zerstörte Dorf Posad-Pokrovske bei Cherson. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Posad-Pokrovske: Nur wenige blieben, als der Ukraine-Krieg kam

Wenige Dörfer wurden in den vergangenen Monaten im Krieg in der Ukraine so brutal unter Feuer genommen wie Posad-Pokrovske. Jeden Tag gingen Geschosse auf das Dorf nieder, manchmal explodierten bis zu 400 am Tag. Raketen. Granaten. Luftminen. Wochenlang harrten Hunderte Einwohner in den Kellern ihrer Häuser aus, dann flohen die meisten, als sich die Gelegenheit ergab. Gut drei Dutzend der 2400 Einwohner blieben, weil sie alt oder zu gebrechlich waren, oder weil sie ihr Dorf nicht verlassen wollten.

"Ich bin hier auf die Welt gekommen, ich bin hier getauft worden. Mein Vater wurde hier geboren, mein Großvater und mein Urgroßvater", sagt Vitaly Synelnikov. Er ist 55, ein stämmiger Mann mit großen, schwieligen Händen. "Ein Dorf ohne Einwohner ist ein totes Dorf. Deshalb bin ich geblieben." Vor dem Krieg sei Posad-Pokrovske ein schönes Dorf gewesen, das Gras immer ordentlich geschnitten, die Bäume auf das rechte Maß gestutzt. "Wir hatten ein gutes Leben."

Vitaly Synelnikov ist in Posad-Pokrovske geblieben. Im Hintergrund sieht man einen zerstörten Panzer.
Vitaly Synelnikov ist in Posad-Pokrovske geblieben. Im Hintergrund sieht man einen zerstörten Panzer. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ukraine-Krieg: Kein fließendes Wasser, kein Strom

Die vergangenen Monate seien nicht leicht gewesen, erzählt Synelnikov, zuckt mit den Schultern, es ist natürlich eine Untertreibung. Kein fließendes Wasser, kein Strom, all die Zeit. Der ständige Beschuss, der die Nerven zerrieb.

Neben seinem Hof harrten Nina Chernushenko und ihr Mann Vitaly Malichkovich seit März jede Nacht in im Keller des Cousins von Nina aus. Ihr eigenes Haus, in dem sie vierzig Jahre lebten, ist nur noch eine Ruine. Der Keller ist ein feuchtes, dreckiges Loch, auf Holzregalen stehen Gläser mit eingelegten Gurken und Tomaten, auf zwei Pritschen liegen die schmutzigen Decken, unter denen sie sich verkrochen. Wasser haben sie aus dem Brunnen im Garten geholt. Es ist nicht sauber, aber trinkbar, sagt Malichkovich.

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"Sie haben alles, was sie konnten, auf uns abgeworfen", sagt Chernushenko. Ihre Tochter wurde verwundet. Am schlimmsten sei der Beschuss mit Phosphor-Granaten gewesen. "Wir sind von Haus zu Haus gerannt, um die Feuer zu löschen. Es war Sommer, und alles war trocken."

Phosphor-Granaten sind besonders fürchterliche Waffen, ihr Einsatz ist international geächtet. Noch immer ist den beiden 60-Jährigen die Fassungslosigkeit über das Erlebte ins Gesicht geschrieben und das Erstaunen darüber, dass sie überlebt haben. Chernushenko steigen immer wieder die Tränen in die Augen, wenn sie über die vergangenen Monate spricht.

Nina Chernushenko und ihr Mann Vitaly Malichovich in ihrem zerstörten Haus.
Nina Chernushenko und ihr Mann Vitaly Malichovich in ihrem zerstörten Haus. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Neun Monate Ukraine-Krieg: Inzwischen herrscht gespenstische Ruhe

15 Einwohner des Dorfes sind durch den Beschuss ums Leben gekommen. Sascha, den Pensionär, haben sie im Mai in seinem Garten beerdigt. Direkt neben der Stelle, wo das Geschoss einschlug, das ihn tötete. Zum Friedhof konnten sie ihn nicht bringen, weil dort ständig etwas einschlug. Sie haben das Grab mit einer Holztür abgedeckt, damit die vielen streunenden Hunde ihn nicht ausbuddeln.

Jetzt herrscht seit einigen Wochen gespenstische Ruhe in Posad-Pokrovske. Schon im September, als die ukrainischen Streitkräfte ihre Gegenoffensive Richtung Cherson starteten, ließ der Beschuss auf das Dorf nach. Seit dem 11. November, dem Tag, als die Russen sich aus Cherson zurückzogen, hat er fast ganz aufgehört. Nur ab und an erreichen noch Geschosse die Gegend. Strom und fließendes Wasser gibt es noch immer nicht, dennoch sind mehr als hundert Menschen zurückgekehrt ins Dorf.

Oleh Dolgolutskyi (vorne) beim Reparieren des zerstörten Hauses.
Oleh Dolgolutskyi (vorne) beim Reparieren des zerstörten Hauses. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Zurückgekehrter Einwohner: "Ich wollte helfen"

Hinter der zerbombten Ölfabrik, in deren Nähe die verlassenen Schützengräben der ukrainischen Soldaten sind und in der die ausgebrannten Wracks von drei ihrer Panzer stehen, ist ein Hämmern zu hören. Oleh Dolgolutskyi, 38, stahlblaue Augen, Bart, Baseballkappe, steht auf dem Dach des Hauses seiner Mutter Olga. Mit zwei Freunden versucht er das Haus winterfest zu machen.

Er ist einer der Helden von Posad-Pokrovske. Anfang April war er ins Dorf zurückgekehrt, eigentlich nur, um eine Tasche mit Geld und Dokumenten abzuholen, die er bei der Flucht vergessen hatte. "Ich habe gesehen, dass Leute geblieben sind, und ich wollte ihnen helfen", sagt Dolgolutskyi heute.

Also fuhr er immer wieder nach Odessa, um Lebensmittel zu besorgen. Das Militär hatte die M14 für Hilfsorganisationen gesperrt. Dolgolutskyis kleiner Transporter sieht geschunden aus, die Windschutzscheibe ist gerissen, im Blech klaffen Löcher von Schrapnellen. Seine Mutter ist vor zwei Wochen ins Dorf zurückgekehrt. Sie schläft im Keller, er in einem Verschlag im Nachbarhaus. Sie haben Kerzen und das bleiche Licht ihrer Smartphones, wenn sie geladen sind.

Oleh Dolgolutskyi mit seiner Mutter Olga.
Oleh Dolgolutskyi mit seiner Mutter Olga. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Zukunft von Posad-Pokrovske liegt in den Händen der Einwohner

Abends sitzen sie bei einem Freund in der Nachbarschaft, der einen Generator hat. Posad-Pokrovske versinkt jetzt früh in Dunkelheit, schon um fünf Uhr abends kann man die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Sie trinken, essen, reden sie über den Tag. Sie haben sich früher immer abends getroffen, zum Grillen, zum Quatschen. "Wir helfen uns alle gegenseitig", sagt Dolgolutskyi.

Auf die Hilfe der Regierung warten sie nicht, es war auch noch niemand Offizielles im Dorf. Es gibt Hilfsorganisationen die Unterstützung leisten, in manchen Schuppen stehen Essenspakete des Welternährungsprogramms. Ob das Dorf eine Zukunft hat, liegt in den Händen der Menschen hier, sagt Dolgolutskyi. "Und in Gottes Händen", sagt seine Mutter.

Auf der anderen Seite der M14 ist Andriy Hupal mit seiner Frau Oleksandra in das Haus seiner Tochter eingezogen. Ihr eigenes Haus ist ausgebrannt, vier Phosphorgranaten. Sie haben auch seinen Traktor vernichtet. Fünfzig Jahre hatte der auf dem Buckel, ein sowjetisches Modell der Traktorenfabrik aus Charkiw.

Das Haus der Tochter ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, die Fenster sind kaputt, aber wenigstens regnet es nicht herein. Hupal, 55, ist Landwirt, er hat acht Hektar Ackerfläche, auf denen er Paprika und Rote Bete anbaut. "Ich muss die Felder für das Frühjahr vorbereiten", sagt Hupal. Deswegen ist er zurück in sein Dorf gekommen.

Bauer Andriy Hupal mit seiner Frau Oleksandra, Tochter Olena, Schwiegersohn Vyacheslav und einem Teil einer russischen Rakete, das er auf seinem Acker gefunden hat.
Bauer Andriy Hupal mit seiner Frau Oleksandra, Tochter Olena, Schwiegersohn Vyacheslav und einem Teil einer russischen Rakete, das er auf seinem Acker gefunden hat. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Posad-Pokrovske: Die Menschen packen einfach an

Vorbereiten heißt vor allem: Die Blindgänger und die Reste der Geschosse aus dem Boden holen. An der Mauer des Hauses hat Hupal schon einige Raketenteile aufgetürmt. "Vor denen habe ich keine Angst", sagt er, hebt ein Teil hoch, wirft es auf den Boden. Die explosiven Hinterlassenschaften, die tiefer in der fruchtbaren Erde stecken, beunruhigen ihn mehr. Aber der 55-Jährige hat einen Plan.

Er will die Blindgänger mit seinem Traktor an einem langen Seil aus der Erde ziehen. "Wenn sie explodieren, explodieren sie eben. Wenn nicht, dann nicht." Ob es nicht klüger wäre, auf ein Minen-Räumkommando zu warten? Er schnaubt. "Die haben so viel zu tun, das wird Jahre dauern."

Sie packen einfach an in Posad-Pokrovske. Auf der M14 wird wieder viel Militärgerät verlegt. In der Ferne donnern Artilleriegeschütze. Es sind ukrainische.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.