Isjum. Die Teilmobilmachung könnte zu einem Umdenken in Russland führen. Warum es der beste Weg wäre, wenn die Bevölkerung den Krieg beendet.

Wie unter einem Brennglas zeigt sich in einem kleinen Waldstück bei Isjum der ganze mörderische Wahnsinn des Krieges, den der russische Despot Wladimir Putin im Februar begonnen hat. Hunderte Leichen von Zivilisten wurden hier in den Monaten der russischen Besatzung verscharrt.

Das waren Menschen, die vor dem Kriegsbeginn ein normales Leben geführt haben. Kinder, die die Schule besuchten, Frauen und Männer, die ihrem Beruf nachgingen und zusammen feierten. Jetzt werden ihre sterblichen Überreste geborgen. Sie wurden von Bomben und Raketen zerfetzt, manche von ihnen möglicherweise ermordet. Es ist wichtig, dass untersucht wird, wie sie zu Tode gekommen sind, um Kriegsverbrechen aufzudecken.

Aber der Krieg als solcher ist ein Verbrechen. Neben den toten Zivilisten wurden russische Soldaten eingegraben. Männer, die von Putin in ein Gemetzel geschickt wurden, das bereits Zehntausende russische Bürger in Uniform das Leben gekostet hat.

Türkei und Indien müssen den Angriffskrieg endlich verurteilen

Isjum, die Kleinstadt im Osten der Ukraine ist nach ihrer Befreiung vor etwa zwei Wochen eine Ruinenlandschaft. Hinter der Stadt, auf der Straße weiter Richtung Osten liegen Dutzende ausgebrannte Wracks gepanzerter Fahrzeuge der russischen Streitkräfte. In diesen Wracks starben Russen. Der Machthaber im Kreml und seine Clique versündigen sich auch am eigenen Volk.

Jan Jessen, Politik-Korrespondent
Jan Jessen, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Jetzt will Putin noch mehr Männer in den Tod schicken, noch mehr Leid und Verwüstung über die Ukraine bringen. Auf die Teilmobilmachung braucht es eine entschiedenere Antwort der internationalen Gemeinschaft. Putin hat mit autokratischen Regimen wie dem chinesischen oder dem iranischen Partner im Geiste. Von ihnen ist nicht zu erwarten, dass sie sich gegen Putin stellen.

Es ist aber eine Schande, dass Indien, die größte Demokratie der Welt, oder das Nato-Mitglied Türkei noch immer zögern, den russischen Angriffskrieg vehement zu verurteilen abzubrechen. Das Regime in Moskau muss verstehen, dass es in einer Welt, die sich auf universelle Menschenrechte verständigt hat, nicht ungestraft davonkommen kann.

Auch wenn Fragen der Moral immer hinter realpolitischen Erwägungen zurückgestellt werden, sollte es im grundlegenden Interesse der Weltgemeinschaft sein, dass nicht das Recht des Stärkeren die Zukunft formt, weil ansonsten ein Zeitalter der Gewalt und des Chaos droht.

Teilmobilmachung könnte zu Umdenken in russischer Bevölkerung führen

Zudem brauchen die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Russland Unterstützung, die sich gegen Krieg, Teilmobilmachung und moralische Verrohung ihres Landes stellen. Bislang hat der Krieg das Bewusstsein breiter Teile der russischen Bevölkerung noch nicht erreicht. Die Propaganda verfing oder es war den meisten Russen egal, was in der Ukraine geschieht.

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Die meisten der jungen Männer, die in der Ukraine starben, stammten aus abgehängten Regionen im tiefen Osten des Landes und gehörten Minderheiten an. Wenn nun die ersten Reservisten aus den Metropolen im Westen wie Moskau oder St. Petersburg eingezogen und in die Ukraine geschickt werden, wird es vielleicht ein Umdenken in der russischen Bevölkerung geben.

Die ersten Demonstrationen deuten darauf hin, dass sich der Protest formiert. Ein Zeichen dafür, dass die nationalistische Blut-und-Boden-Ideologie Putins nicht längst alle Russen überzeugt, ist die Welle derjenigen, die gerade aus dem Land fliehen, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen. Dieser Krieg kann auch durch die russische Bevölkerung beendet werden – und das wäre der beste Weg.

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