Russland

Ukraine-Krieg: Gibt Wladimir Putin den Kampf um Kiew auf?

Michael Backfisch
| Lesedauer: 7 Minuten
Russland will Angriffe bei Kiew und Tschernihiw "radikal" verringern

Russland will Angriffe bei Kiew und Tschernihiw "radikal" verringern

Bei den Gesprächen über eine Waffenruhe in Istanbul hat Russland zugesichert, seine Angriffe rund um die ukrainischen Städte Kiew und Tschernihiw "radikal" zurückfahren zu wollen - als Zeichen des guten Willens. In der Region stockt der russische Vormarsch schon seit längerem. de l'arrivée du président turc Recep Tayyip Erdogan

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Kiew.  Moskau kündigt eine „radikale“ Reduzierung der Militäroperationen rund um Kiew und Tschernihiw an. Was bedeutet das im Ukraine-Krieg?

Ist das die Wende im Ukraine-Krieg? Ist es eine Neuausrichtung der russischen Angriffe? Oder startet Moskau ein taktisches Manöver? Die Nachricht vom Dienstag darf zumindest als Überraschung gelten: Russland wolle seine „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw „radikal“ reduzieren, kündigte der stellvertretende Verteidigungsminister des Landes, Alexander Fomin, an. Dies sei im Verlauf der Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul entschieden worden, erklärte Fomin.

In der türkischen Hafenmetropole hatten sich Delegationen aus Moskau und Kiew zu Friedensgesprächen getroffen. Die strategisch wichtige Stadt Tschernihiw, rund 150 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt gelegen, war in den vergangenen Wochen von der russischen Armee heftig beschossen worden.

Russland hatte seinen Angriffskrieg a uf die Ukraine am 24. Februar begonnen. Es war nun die erste Ankündigung eines Rückzugs dieser Art von russischer Seite. Das Verteidigungsministerium hatte vor einigen Tagen erklärt, sich auf den Donbass im Osten der Ukraine konzentrieren zu wollen. Der ukrainische Generalstab teilte am Dienstag mit, im Gebiet um Kiew und Tschernihiw werde der Abzug einzelner Einheiten der russischen Streitkräfte beobachtet.

Ukraine-Krieg: Ziehen sich die Russen tatsächlich zurück?

Nach Einschätzung von Experten könnten die Ankündigungen aus Moskau darauf hinauslaufen, dass die Russen ihren flächendeckenden Brachialkrieg in der Ukraine herunterfahren. „Wenn sich die Russen von Kiew und Tschernihiw wirklich zurückziehen, haben sie das Ziel, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen, aufgegeben. Das wäre eine grundlegend neue Weichenstellung im Krieg“, sagte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations unserer Redaktion.

„Bis vor einer Woche machte Kiew das Schwergewicht der russischen Militäroperationen in der Ukraine aus. Dass es den Russen nicht gelungen ist, Kiew einzukreisen, ist beachtlich.“ Mit einem Abzug aus Kiew wäre jedoch noch kein Frieden im Ukraine-Krieg erreicht, so Gressel. „Es kann durchaus sein, dass die Russen ihre Kräfte dann auf andere Gebiete konzentrieren – zum Beispiel auf den Donbass oder Mariupol, um die Landverbindung von der Krim zum russischen Festland zu sichern.“ Lesen Sie hier: Baerbock als Außenministerin – Gewachsen in der Krise

Ukrainischer Botschafter warnt den Westen vor Putin

Wesentlich skeptischer ist der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk. „Wir glauben, diese ‚versöhnliche‘ Rhetorik aus Moskau ist nichts anderes als Bluff und Nebelkerzen, um einerseits von der militärischen Blamage des Kreml in der Ukraine abzulenken“, sagte Melnyk unserer Redaktion.

„Andererseits geht es heute Putin auch darum, den Westen – auch Deutschland – in die Irre zu führen. Angeblich sei man bereit für den Frieden, und die Ukrainer schaffen das schon selbst – ohne neue Waffenlieferungen. Das ist eine gefährliche Falle. Diese Zeit wird Russland nutzen, um seine Kräfte umzugruppieren, neue wehrpflichtige Soldaten zu schicken und logistischen Nachschub zu sichern.“

Russlands Präsident Wladimir Putin habe sein Hauptziel, „die ukrainische Staatlichkeit zu eliminieren und Kiew einzunehmen oder zu zerstören“, nicht aufgegeben. Melnyk sprach sich für eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland aus. „Vor allem das Moratorium auf Energie-Importe aus Russland soll unverzüglich eingeführt werden.“

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Ukraine fordert Abkommen, um Sicherheit zu garantieren

Auch das US-Verteidigungsministerium sieht die russische Ankündigung als taktisches Manöver und warnt vor einer neuen Militäroffensive in anderen Landesteilen. Es sei bislang nur zu beobachten, dass sich „eine sehr kleine Zahl“ russischer Truppen nördlich von Kiew von der Hauptstadt wegbewege. „Wir sind nicht bereit, die russische Begründung zu glauben, dass es ein Abzug ist“, sagte John Kirby, Sprecher des Pentagons.

Der Abzug aus Kiew und Tschernihiw solle dazu dienen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und die Bedingungen für weitere Verhandlungen zu schaffen, betonte der russische Vizeverteidigungsminister Fomin. Die Ukraine sei dabei, einen Vertrag vorzubereiten über einen neutralen Status des Landes ohne Atomwaffen. Russland gehe davon aus, dass die Ukraine dazu entsprechende Entscheidungen treffe.

Die ukrainische Seite äußerte sich in Istanbul ebenfalls zuversichtlich. Sie forderte ihrerseits ein „internationales Abkommen“, um die Sicherheit der Ukraine auch ohne Nato-Mitgliedschaft zu garantieren. Mehrere Länder sollten als Unterzeichnerstaaten die Garanten sein, unterstrich der ukrainische Chefunterhändler David Arachamia.

„Wir wollen einen internationalen Mechanismus zu Sicherheitsgarantien, bei dem die Garantenstaaten sich entsprechend des Artikels 5 der Nato und sogar in einer noch härteren Form verhalten würden.“ Der Bündnisfall-Artikel sieht vor, dass ein bewaffneter Angriff auf ein Land des Verteidigungsbündnisses als ein Angriff auf alle Bündnisstaaten gewertet wird. Auch interessant: Kein Rubel, kein Gas – Stoppt Russland die Lieferung?

Russland will „militärische Spezialoperation“ fortsetzen

Als Garanten für die Einhaltung der Sicherheit könnten unter anderem die Türkei, Israel, Polen und Kanada fungieren, so der ukrainische Delegationschef Arachamia. Aber die Sicherheitsgarantien müssten ebenfalls von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats wie den USA, Frankreich, Großbritannien, China oder Russland kommen. Arachamia machte auch deutlich, dass aus seiner Sicht die Ergebnisse von Istanbul „ausreichend“ seien für ein Treffen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit Kremlchef Putin.

Die Ukraine hatte zuvor verkündet, dass sie zum Verzicht auf einen Nato-Beitritt und zur Neutralität bereit wäre, wenn sie im Gegenzug umfassende Sicherheitsgarantien erhält. Selenskyj hatte zudem seine Bereitschaft erklärt, auch über den Status der Territorien im Osten der Ukraine zu reden. Russland hatte als zentrale Ziele seines Angriffskriegs in der Ukraine die Neutralität, die „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ des Nachbarlandes ausgegeben. Zuletzt hatte Moskau allerdings signalisiert, dass es nicht an einem Regierungswechsel in Kiew interessiert sei.

Trotz der Entspannungssignale pochten beide Seiten auch am Dienstag auf Maximalpositionen. Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa kündigte eine Fortsetzung der Invasion an, die offiziell als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird. Von der ukrainischen Delegation hieß es: Vor dem Inkrafttreten eines finalen Abkommens müsse auf dem gesamten Gebiet der Ukraine wieder Frieden herrschen und per Referendum über die Bedingungen eines Abkommens mit Russland entschieden werden. Gebietsabtretungen seien für Kiew nach wie vor indiskutabel.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.