Brüssel. Das Urteil rügt das Vorgehen der Europäischen Zentralbank. Nun muss die EU ihr Krisenmanagement ändern – auch in der Corona-Pandemie.

Dieses Urteil wird die europäische Politik verändern. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat eine Entscheidung zum Vorgehen der Europäischen Zentralbank (EZB) getroffen, die Folgen auch für das wirtschaftliche Krisenmanagement der Europäischen Union in Zeiten des Coronavirus haben wird.

Denn bislang hat die EZB als eine Art Feuerwehr immer wieder dort eingegriffen, wo sich die eigentlich verantwortlichen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten lieber nicht die Finger verbrennen wollten.

Das wird so nicht weitergehen können. Mit dem nun gerügten Anleiheprogramm haben die Währungshüter viel Geld in den Markt gepumpt, um die Wirtschaft anzukurbeln. 2,6 Billionen Euro hat die Notenbank zwischen 2015 und 2018 in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt, was hoch verschuldeten Staaten die weitere Kreditaufnahme erleichtert und zugleich das Haftungsrisiko auch für Deutschland erhöht hat.

Das Anleiheprogramm der EZB bestraft die Sparer

Christian Kerl kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleiheprogramm der EZB.
Christian Kerl kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleiheprogramm der EZB. © Privat

Die EZB hat sich damit nach Auffassung der Karlsruher Richter in die Wirtschaftspolitik der EU-Staaten eingemischt, obwohl genau das verboten ist. Die Nebenwirkungen sind schwerwiegend: Die Anleihekäufe haben die Zinsen immer weiter Richtung null gedrückt.

Das bestraft die Sparer und hat den Boom im Immobiliensektor erst richtig angeheizt. Die Beruhigung der Eurokrise, die Europa zum Gutteil der Notenbank überlassen hat, hat einen hohen Preis; auch die Bundesregierung nimmt das stillschweigend in Kauf.

Allerdings: Die Richter haben davon abgesehen, die Anleihekäufe grundsätzlich als verbotene Staatsfinanzierung einzustufen. Sie drängen vielmehr darauf, die Programme müssten verhältnismäßig sein.

Stehen die aktuellen Corona-Hilfen in Frage?

Auswirkungen auf die aktuellen Corona-Hilfen der Zentralbank sind aber wohl unumgänglich. Die EZB hat ja soeben zur Milderung des wirtschaftlichen Absturzes ihre Anleihekäufe noch einmal deutlich ausgeweitet und dafür sogar die bisherige Selbstbegrenzung, maximal ein Drittel der Staatsanleihen eines EU-Landes zu erwerben, aufgehoben.

Wenn die Bundesbank nun als größter Anteilseigner der EZB auf die Bremse treten muss, könnte auch dieses Programm infrage stehen.

Zudem ist die deutsche Politik jetzt höchstrichterlich verpflichtet, der Zen­tralbank auf die Finger zu sehen und deren Kompetenzüberschreitungen zu stoppen. Die Auflagen für die deutsche Beteiligung an der künftigen Notenbankpolitik werden eine Herausforderung für das europäische Krisenmanagement.

Weil der Spielraum der EZB nun eingeschränkt ist, werden die EU-Staaten schneller und stärker selbst handeln müssen, um die Eurozone stabil zu halten. Auf die Hilfe der Notenbank etwa für das hoch verschuldete Italien können sie sich nicht mehr verlassen.

Karlsruhe urteilt ungeachtet aller politischen Brisanz

Gut so. Das Gericht hat sich bei seiner Entscheidung von der politischen Brisanz nicht abschrecken lassen. Das verdient Respekt. Die Karlsruher Richter widersprechen auch ausdrücklich einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der vor 18 Monaten das EZB-Gebaren noch abgesegnet hat.

Sie nennen das Urteil der höchsten EU-Richter „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“. Stattdessen erinnern sie Bundestag und Bundesregierung an ihre Verantwortung auch für die Ebene der europäischen Integration.

Das ist ein Warnschuss über die Währungspolitik hinaus: Die bisherige Praxis der Europäischen Union, bei der Bewältigung der vielen Krisen die Grenzen des gemeinsamen Rechts zu strapazieren und zur Not auch Regelverletzungen zu riskieren, hat einen schweren Dämpfer erhalten.

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