Brüssel. Premiere für Ursula von der Leyen: Zum ersten Mal seit Amtsantritt hält die EU-Kommissionschefin die traditionelle Rede zur Lage der Europäischen Union. Natürlich geht es um die Folgen der verheerenden Corona-Krise - aber von der Leyen spannt den Bogen deutlich weiter.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union für einschneidende Reformen in der Klima-, Gesundheits- und Migrationspolitik geworben.

"Es liegt an uns, welches Europa wir wollen", sagte die deutsche Politikerin am Mittwoch bei einer Rede zur Lage der Europäischen Union im Brüsseler Europaparlament. "Reden wir Europa nicht schlecht. Arbeiten wir lieber daran. Machen wir Europa stark."

Wie das ihrer Meinung nach gelingen soll, präsentierte von der Leyen in einer gut 77-minütigen Rede vor den Europaabgeordneten. Europastaatsminister Michael Roth (SPD) machte als Vertreter der derzeitigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft jedoch deutlich, dass nicht alle Wünsche von der Leyens eins zu eins umgesetzt werden dürften. "Sie werden sicherlich nicht erwartet haben, dass der Rat (der EU-Staaten) jeden Ihrer Vorschläge uneingeschränkt teilt", sagte er zu seiner früheren Kollegin. Beispiele nannte er allerdings nicht.

EIN EHRGEIZIGES KLIMAZIEL: 55 PROZENT WENIGER TREIBHAUSGASE

Für den Klimaschutz schlägt von der Leyen eine drastische Verschärfung vor. Demnach sollen die Treibhausgase der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 fallen. Bisher lautet das offizielle Ziel minus 40 Prozent. Die Verschärfung auf "mindestens 55 Prozent" soll helfen, das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten und die gefährliche Überhitzung der Erde zu stoppen. Das neue Ziel muss in den nächsten Wochen noch mit dem EU-Parlament und den EU-Staaten verhandelt werden. Für die nötigen Investitionen will von der Leyen das Corona-Wiederaufbauprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro nutzen. 30 Prozent dieser Summe, die die EU über gemeinsame Schulden finanzieren will, sollen aus "grünen Anleihen" beschafft werden, kündigte die Kommissionschefin an.

EINE LEHRE AUS CORONA: MEHR MACHT FÜR DIE EU IN GESUNDHEITSFRAGEN

Die EU sollte von der Leyen zufolge mehr Macht und Geld in Gesundheitsfragen bekommen. "Für mich liegt klar auf der Hand: Wir müssen eine stärkere Europäische Gesundheitsunion schaffen, es ist Zeit." Konkret schlug die Kommissionschefin eine neue EU-Agentur für biomedizinische Forschung und Entwicklung vor. Zudem drängte sie das Europaparlament, mehr Mittel für das Gesundheitsprogramm "EU4Health" auszuhandeln. Grundsätzlich müsse man über die Zuständigkeiten in Sachen Gesundheit sprechen. Das sei eine lohnende und dringende Aufgabe für die geplante Konferenz über die Zukunft Europas.

NORD STREAM 2 WIRD DAS VERHÄLTNIS ZU RUSSLAND NICHT ÄNDERN

Befürwortet von der Leyen nach der Vergiftung des russischen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny einen Baustopp für die Ostsee-Erdgasleitung Nord Stream 2? Ihre Äußerungen dazu sind weiter nicht eindeutig. "Denjenigen, die engere Beziehungen zu Russland fordern, sage ich: Die Vergiftung von Alexej Nawalny mit einem hoch entwickelten chemischen Kampfstoff ist kein Einzelfall", erklärte sie. Das gleiche Muster habe man zuvor in Georgien und der Ukraine, in Syrien und Salisbury gesehen – und bei der Einmischung in Wahlen weltweit. "Dieses Muster ändert sich nicht – und keine Pipeline wird daran etwas ändern", sagte von der Leyen.

ES BRAUCHT KOMPROMISSE FÜR DIE MIGRATIONSREFORM

Seit Jahren streiten die EU-Staaten erbittert über die gemeinsame Migrationspolitik - kommenden Mittwoch legt von der Leyens Behörde deshalb neue Reformvorschläge vor, die die Blockade lösen sollen. "Wenn wir alle zu Kompromissen bereit sind – ohne unsere Prinzipien aufzugeben – können wir eine Lösung finden", sagte von der Leyen. Die Bilder des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria in Griechenland hätten schmerzhaft vor Augen geführt, "dass Europa hier gemeinsam handeln muss". Mit dem neuen Migrationspakt sollten Asyl- und Rückführungsverfahren enger verknüpft, Schleuser stärker bekämpft und der Außengrenzschutz forciert werden. Außerdem solle es engere Partnerschaften mit Drittländern geben.

KOMMT DER "NO DEAL" MIT GROSSBRITANNIEN?

Von der Leyen hält ein Handelsabkommens mit Großbritannien zum Ende der Brexit-Übergangsphase für immer weniger wahrscheinlich. "Mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass wir doch noch rechtzeitig ein Abkommen erzielen." Die Gespräche seien nicht so weit wie erhofft, und es bleibe nur noch sehr wenig Zeit. Auch mit Blick auf das Verhältnis zu den USA sagte von der Leyen: "Wir wollen einen neuen Anfang zwischen alten Freunden – auf beiden Seiten des Atlantiks wie auch auf beiden Seiten des Ärmelkanals."

MILLIARDEN FÜR EINE DIGITALE DEKADE

"Stellen wir uns für einen Moment diese Pandemie vor ohne das Digitale. Quarantäne – vollständig isoliert von Familie und Gemeinschaft, abgeschnitten von der Arbeitswelt, gewaltige Versorgungsprobleme" - mit diesen Worten leitete von der Leyen ihre Ankündigungen zu Technologie-Themen ein. Um Europa im Bereich Digitales voranzubringen, will sie eine europäische Cloud zur Datenspeicherung aufbauen, eine sichere europäische digitale Identität vorschlagen und acht Milliarden Euro in die nächste Generation von Supercomputern investieren.

NICHT ALLE ABGEORDNETEN SIND ÜBERZEUGT

Die Reaktionen auf von der Leyens Rundumschlag fielen gemischt aus. Daniel Caspary (CDU) und Angelika Niebler (CSU) teilten etwa mit, von der Leyen habe ein "leidenschaftliches Plädoyer auf die europäischen Werte" gehalten. Andere waren weniger überzeugt. SPD-Politikerin Delara Burkhardt nannte das vorgeschlagene neue EU-Klimaziel enttäuschend. Der belgische Liberale Guy Verhofstadt verwies darauf, dass viele Vorschläge von der Leyens gut seien - allerdings von den EU-Staaten blockiert würden.

Die Linken-Abgeordnete Özlem Alev Demirel kritisierte von der Leyen: "Sie kündigt einen neuen Migrationspakt an, der offensichtlich vorsieht, die EU weiter abzuschotten." Die EU dürfe nicht nur von menschliche Werten sprechen, sondern müsse sie auch ihm Umgang mit Schutzsuchenden leben. Die Grünen-Fraktionschefin Ska Keller forderte, "den Kampf mit den Mitgliedstaaten aufzunehmen" und die Hilfe für Schutzsuchende zur obersten Priorität zu machen. Vertreter der rechtsnationalen ID-Fraktion warfen von der Leyen hingegen vor, sich nicht ausreichend um die Sicherung der EU-Außengrenze zu kümmern.

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