Hamburg/Berlin. Viele in der SPD wünschen sich die authentische Familienministerin als Parteichefin. Doch Franziska Giffey steckt in einem Dilemma.

Über Franziska Giffey raunen Sozialdemokraten gern mit verzückter Stimme, diese Frau könne in wenigen Sekunden einen ganzen Raum und alle anwesenden Menschen für sich einnehmen. In der Turnhalle der Kita Sonnenschein im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort braucht die Familienministerin ein bisschen länger, bis ihre Zauberkräfte wirken.

Bei den Aufwärmübungen mit 14 ausgewählten Jungen und Mädchen wirkt sie zunächst etwas angespannt. Im Kostüm und mit blau glänzenden Absatzschuhen auf einem Bein zu stehen, Kniebeugen zu machen, während Kameras und Smartphones auf einen gerichtet sind, ist nicht so lustig, wie es aussieht.

Als Giffey von einer Erzieherin eine Trommel und einen kleinen Holzstab in die Hand bekommt, dreht sie auf und ruft lachend: „So, Kinder, ich bin die Franziska und geb jetzt mal den Ton an.“ In den nächsten Minuten wird Feuer-Wasser-Blitz gespielt, eine beliebte Sportübung. Die Kinder quietschen vor Vergnügen und zischen unter dem von Giffey entfachten Trommelwirbel durch die Turnhalle. Die Familienministerin ruft „Blitz“ und die Kinder schmeißen sich auf den Parkettboden. „Toll, wenn alle mal auf mein Kommando hören“, freut sich die Sozialdemokratin.

Giffeys Markenzeichen: die Hochsteckfrisur und die piepsige Stimme

Sie ist an diesem Tag an die Elbe gekommen, um mit dem Hamburger Senat den Vertrag für die Umsetzung des Gute-Kita-Gesetzes zu unterschreiben. Er verspricht der sehr wohlhabenden Hansestadt in den nächsten Jahren 121 Millionen Bundesgeld. Viele in der SPD wünschen sich in diesen für die älteste deutsche Partei so trost- und mutlosen Zeiten, in denen weite Teile des Establishments sich in die Büsche schlagen, dass diese 41 Jahre alte Politikerin mit der blonden Hochsteckfrisur und der piepsigen Stimme sich endlich ein Herz fasst und der orientierungslosen Volkspartei mit ihren 430.000 Mitgliedern sagt, wo es langgeht.

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Würde Giffey in einem Zweierteam für den nach dem Rücktritt von Andrea Nahles vakanten Parteivorsitz kandidieren, wäre ihr der Sieg bei dem im Oktober anstehenden Mitgliederentscheid eigentlich nicht zu nehmen. Eigentlich. Denn anders als in der kuscheligen Kita Sonnenschein gibt Giffey seit Wochen nicht den Ton an, sondern wirkt wie eine Getriebene.

Kein Wunder. Seit etwa einem halben Jahr prüft die Freie Universität Berlin die Doktorarbeit der früheren Bürgermeisterin des Berliner Problembezirks Neukölln. Der von anonymen Plagiatsjägern der Internetgruppe VroniPlag erhobene Verdacht steht im Raum, dass Giffey in einem größeren Umfang falsch zitiert hat und Textpassagen von anderen Autoren übernommen haben soll, ohne dies ausreichend kenntlich gemacht zu haben. Egal wo Giffey seitdem auftaucht, die Fragen zur Doktorarbeit und zum SPD-Vorsitz verfolgen sie. So auch in Hamburg, ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Sommerurlaub.

Stephan Weil wollte Giffey überreden

Ob sie nun für eine Doppelspitze zur Verfügung stehe? „Ich werde mich zu gegebener Zeit ganz klar äußern“, sagte sie. Am vergangenen Wochenende, an dem sich mehrere Spitzengenossen zu einem geheimen Treffen in Frankfurt am Main einfanden, hatte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sie noch einmal heftig umworben und gefragt, ob sie mit ihm gemeinsam antreten wolle. Giffey soll dies dem Vernehmen nach verneint haben. Daraufhin erklärte Weil am Montag in Hannover, dass er von einer Kandidatur Abstand nehmen wolle. „Ich gehe davon aus, dass ich nicht kandidieren werde.“

In Weils Umfeld wird betont, dass die verschwurbelten Worte eine klare Absage gewesen seien. Am Mittwoch postete Weil bei Instagram aus dem Wanderurlaub (gemeinsam mit Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann) ein Foto der berühmt-berüchtigten Eiger-Nordwand. „Die Aufgabe des Tages: Eiger-Nordwand! Entlang, nicht hinauf“, schrieb Weil dazu. Unfreiwillig lieferte er damit eine schöne Metapher für die schwierige Aufgabe, die Richtung zehn Prozent abrutschende SPD zu retten, und die Entscheidung vieler Spitzengenossen, es lieber sein zu lassen.

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Aber wer weiß: Sollte es bei Bewerbern aus der zweiten SPD-Reihe bleiben, wird der Druck auf Promis wie Manuela Schwesig, Olaf Scholz, Heiko Maas, Hubertus Heil und andere wachsen. Fest gerechnet wird mit einer Kandidatur von Generalsekretär Lars Klingbeil. Aber mit welcher Frau? Giffey wäre für jeden SPD-Mann ein sicheres Ticket an die Spitze.

Als Bürgermeisterin von Neukölln legte sich Giffey mit kriminellen Clans an

Seit Wochen wird sie von verschiedenen Seiten bekniet, den vermaledeiten Doktortitel ruhen zu lassen und in die Offensive zu gehen. Giffey zaudert. Im Juni gab sie der „Süddeutschen Zeitung“ ein ziemlich forsches Interview, das sich wie eine Bewerbungsrede las. „Es ist extrem wichtig, dass im Vorsitz jemand ist, der Bauch und Herz erreicht“, sagte sie. Es klang, als rede sie von sich selbst. Ihre Eltern haben sie im Oderbruch in dem Geist erzogen, dass zwei Hände, ein Herz und ein klarer Verstand das Wichtigste im Leben sind.

Als Bürgermeisterin in Neukölln duckte sie sich nie weg. Sie legte sich mit den Clans an, stellte Wachleute vor Problemschulen und redete auch mit Arbeitslosen Klartext. Sprüche wie „Hartz IV und der Tag gehört Dir“ regen sie auf. Giffey, die in ihrer zupackenden Art oft an die verstorbene Brandenburger SPD-Politikerin Regine Hildebrandt erinnert, will sich mit der sozialen Spaltung nicht abfinden.

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Wie die Leute ticken, erfährt sie in ihrem Heimatort Briesen in Brandenburg. Ihr Bruder betreibt eine Autowerkstatt, hat einen Syrer als Azubi eingestellt. Aber als Arbeiterkind, das den Aufstieg bis zur Bundesministerin gepackt hat, die Doktorarbeit jetzt einfach wegschmeißen? Das umstrittene Werk mit dem Titel „Europas Weg zum Bürger – die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“ bedeutet Giffey emotional sehr viel.

Bemerkenswert: Ministeriumsbroschüren etwa unterzeichnet sie handschriftlich stets mit „Dr. Franziska Giffey“. Fünf Jahre steckte sie jede freie Minute neben ihrem damaligen Job als Europabeauftragte von Neukölln in die Promotion. 2010 schloss die Verwaltungswirtin mit der zweitbesten Note magna cum laude ab.

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    Die FU Berlin wird die Prüfung auf jeden Fall zu Ende bringen. Giffey müsste mit dieser schweren Hypothek in den quälend langen Casting-Wettbewerb mit 23 Regionalkonferenzen einsteigen. Was aber, wenn ihr auf halber Strecke oder nach einem möglichen Sieg Ende Oktober der Doktortitel aberkannt würde?

    Derzeit deutet nichts darauf hin, dass der Prüfungsausschuss der FU vor dem 1. September das Verfahren abschließt. Möglich dabei ist, dass Giffey entlastet wird und sie den Titel behalten darf. Doch haben sich namhafte Wissenschaftler zu Wort gemeldet, die mit einem Entzug rechnen - gleichzeitig rügten sie aber auch die Doktormutter an der FU, der Giffeys Versäumnisse hätten auffallen müssen.

    Sie wäre jung genug, um ein Comeback zu schaffen

    Giffey weiß nicht, wann die Entscheidung der Freien Universität fällt. „Ich habe keinen Einblick in diese Zeitplanung. Ich bin da genauso schlau wie Sie. Wir müssen Geduld haben und warten“, sagte Giffey unserer Redaktion. Oder macht sie in den kommenden drei Wochen reinen Tisch, tritt als Ministerin zurück und für die SPD-Spitze an? Bis zum 1. September kann sie grübeln.

    So oder so ist sie mit 41 jung genug, um bei einem unguten Ausgang der Doktoraffäre ein Comeback zu schaffen. Nach wie vor gilt sie als Anwärterin für die nächste Spitzenkandidatur der Berliner SPD in einer Nach-Müller-Zeit. Den Kita-Vertrag mit dem Hamburger Senat übrigens unterschrieb die Familienministerin am Mittwoch nur mit Franziska Giffey - auf die zwei Schnörkel und den Punkt für den „Dr.“ verzichtete sie.