Berlin. Erschreckende Bilanz in der Bauwirtschaft: 56 Mitarbeiter sind in den ersten acht Monaten im Job gestorben. Das sind die Ursachen.

Ein Dachdecker stürzt bei Reparaturen eines Hoteldachs in Berlin 20 Meter in die Tiefe. Ein 65-Jähriger Bauarbeiter fällt von einem Gerüst in München 15 Meter tief und landet auf einer Schachtabdeckung. In Hamburg kippt ein Mitarbeiter beim Wohnungsbau 12 Meter hinab ins Tiefgeschoss. Für alle drei Männer kommt jede Hilfe zu spät. Sie sterben noch am Unfallort.

In diesem Jahr sind bis Ende August bereits 56 Bauarbeiter während der Arbeit tödlich verunglückt. Die häufigsten Ursachen waren Abstürze aus großer Höhe sowie tödliche Verletzungen durch herabfallende Teile. Dies geht aus den aktuellen Zahlen der Berufsgenossenschaft Bau (BG Bau) hervor, die dieser Redaktion vorliegen. Insgesamt wurden in den ersten acht Monaten zudem 65.701 Arbeitsunfälle gemeldet. Im vergangenen Jahr starben insgesamt 85 Bauarbeiter während der Arbeit, bis August waren es 60 Tote.

„Die Situation auf den Baustellen in puncto Sicherheit und Gesundheit ist alarmierend“, kritisiert Carsten Burckhardt, Mitglied im Bundesvorstand der Industrie Gewerkschaft Bau (IG Bau). „Rein statistisch ist bis August alle vier Tage ein Bauarbeiter ums Leben gekommen. Und die Tatsache, dass die Unfallbilanz bereits in den ersten acht Monaten eine so hohe Zahl von tödlich verletzten Bauarbeitern vermeldet, verheißt nichts Gutes.“ Auch die Unfallbilanz liege auf einem „erschreckend hohem Niveau“.

Unfälle am Bau: Dunkelziffer noch deutlich höher

Dabei ist der Gewerkschafter überzeugt, dass die Dunkelziffer der Bauunfälle wahrscheinlich noch deutlich höher ausfällt. „Sie dürfte zweieinhalb bis drei Mal so hoch sein. Denn viele – gerade kleinere Unfälle – werden erst gar nicht gemeldet.“

Ein weiteres Dunkelfeld bestehe bei ausländischen Beschäftigten, die auf Baustellen in Deutschland arbeiteten. Hier würden Unfälle von Vorgesetzten häufig bagatellisiert oder vertuscht, weiß Burckhardt. „Wer illegal auf dem Bau arbeitet, der soll nicht auffallen. Auch dann nicht, wenn er nach einem Unfall eigentlich behandelt werden müsste.“

Hintergrund: Arbeitsschutz: Wie die Bundesländer hinterherhinken

Statt schnell medizinisch im nächsten Krankenhaus versorgt zu werden, würde die Betroffenen in ihr Heimatland zurückgefahren, um dort behandelt zu werden. „Oder man verzichtet ganz darauf, ihnen eine medizinische Versorgung zukommen zu lassen.“

Der Gewerkschafter hat selbst einen solchen Fall erlebt: „Ein Bauarbeiter hatte sich auf einer Baustelle in Nordrhein-Westfalen einen offenen Oberschenkelbruch zugezogen. Er sollte dann kurzerhand in den Bulli gepackt und in sein Heimatland – nach Polen – gefahren werden.“ Dies konnten die Gewerkschafter verhindern, die dafür sorgten, dass der Mann sofort im örtlichen Krankenhaus behandelt wurde.

Gefahren am Bau: Mehr als 645.000 Beschäftigte

Bundesweit beschäftigen die rund 78.300 Baubetriebe etwa 645.390 gewerbliche Mitarbeiter, 170.520 Angestellte sowie rund 43.300 Auszubildende, berichtet die Sozialkasse der Bauwirtschaft (SOKA Bau) für 2021. Jeder zehnte Arbeitnehmer in der deutschen Bauwirtschaft – rund 83.110 Beschäftigte – komme aus dem Ausland und sei ein so genannter Entsendearbeitnehmer. Diese Beschäftigten hätten Anspruch auf Mindestlohn und Urlaub. Die meisten kommen aus Polen, Rumänien, Österreich, Slowenien, der Türkei und aus Portugal. Darüber hinaus gebe es aber auch Arbeiter ohne legale Papiere.

Gefahren auf Baustellen: Bei Arbeiten in einem Abrisshaus ist ein Mann von einer einstürzenden Decke erschlagen worden.
Gefahren auf Baustellen: Bei Arbeiten in einem Abrisshaus ist ein Mann von einer einstürzenden Decke erschlagen worden. © dpa | Philipp Neumann

Unfälle am Bau: Das sind häufige Ursachen

Die Unfallquellen seien vielfältig. Mal fehlten Schutzgeländer, mal seien Leitersprossen angebrochen oder es fehlten Spundwände im Schacht. Aber auch Hektik und Zeitdruck führten zu höheren Risiken. Die Hauptursachen für die vielen Unfälle sieht die Gewerkschaft deshalb in dem mangelnden Arbeitsschutz bei zugleich hohem Kosten- und Zeitdruck.

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Die meisten Unfälle passierten in kleineren Betrieben. „Der Arbeitsdruck auf dem Bau hat enorm zugenommen. Es wird zu viel Arbeit auf zu wenige Schultern verteilt“, kritisiert Burckhardt. Es sei fatal, wenn Bauunternehmen immer mehr Aufträge annehmen würden, aber nicht genug Fachkräfte hätten, um diese zu erledigen. „Das bedeutet Überstunden und Druck in Dauerschleife.“

Unfälle: Auch Arbeitgeber versuchen, Prävention zu verbessern

Die Arbeitgeber bedauern die Unfälle am Bau. Jeder Unfall sei einer zu viel, sagt Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB). „Die Unternehmen arbeiten kontinuierlich an der Analyse von Gefahrpotenzialen, optimierten Unterweisungen und technischen Lösungen, um Arbeitsunfälle zu vermeiden und die Prävention zu verbessern.“ Die leicht rückläufige Unfallzahl belege aus Sicht des ZDB-Chefs, „dass die Arbeitgeber der Bauwirtschaft gemeinsam mit den Arbeitnehmern viel in den Arbeitsschutz investiert haben“.

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Der IG-Bau-Vorstand fordert vor allem mehr Kontrollen von Baustellen durch die Behörden. Der Kontrolldruck müsse vor allem für Betriebe verstärkt werden, die es mit der Arbeitssicherheit nicht wirklich ernst nähmen. „Nur auf Eigenverantwortung zu setzen, ist zu wenig.“ Hier bestehe ein eklatantes Überwachungsdefizit. Burckhardt fordert die Bundesländer auf, die staatlichen Arbeitsschutzkontrollen schnell auszubauen.

„Die Arbeitsschutzbehörden in den Ländern haben nicht die nötigen Kapazitäten, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz für die Beschäftigten wirksam zu kontrollieren.“ Notwendig seien mehr Personal für eine stärkere Überwachung.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.