Berlin. Die Zahl der Frauen in den Technikberufen dümpelt seit Jahren vor sich hin. Millionenschwere Programme haben die Lage kaum verändert.

Es kommt häufig vor, sagt Luzie Kirchner, dass der Dozent alle mit „Meine Herren“ begrüßt. „Da hat man das Gefühl, nicht erwünscht zu sein.“ Kirchner studiert Regenerative Energiesysteme an der Fakultät für Elektrotechnik in Dresden. Sie ist eine von wenigen Frauen in ihrem Jahrgang, unter mehr als 130 Männern.

In der gesamten Branche sieht es nicht anders aus. Der Frauenanteil in der Elektrotechnik liegt bei 6,4 Prozent, über alle technisch-naturwissenschaftlichen Branchen hinweg bei 15 Prozent, so ein aktueller Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Auch der jüngste Nachwuchsbericht der Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) zeigt: Im Jahr 2017 wurden lediglich 11,2 Prozent neue MINT-Ausbildungsverträge mit Frauen abgeschlossen.

Gleichzeitig erreicht der Mangel an Fachkräften in den Bereichen ein Rekordhoch. Allein in der Elektrotechnik hat sich laut IW die Lücke in den vergangenen fünf Jahren beinahe verdoppelt, in der IT mehr als verdreifacht.

Frauen in den MINT-Berufen; Anteil stieg um 1,7 Prozent in sechs Jahren

Seit Jahren versucht der Bund dagegen vorzugehen. „Ada-Lovelace-Projekt”, „bayern girls go tech“, „Cybermentor” heißen nur drei der millionenschweren Programme, mit denen der Staat Mädchen und junge Frauen für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) begeistern will. Nach Angaben des Bildungsministeriums fließen in die Initiativen jedes Jahr 25 bis 30 Millionen Euro.

Mit mäßigem Erfolg: In den vergangenen sechs Jahren hat sich in den technisch-naturwissenschaftlichen Berufen der Frauenanteil um lediglich 1,7 Prozent erhöht. Interessieren sich Frauen schlichtweg nicht für Technik und Mathe, sind die Initiativen also sinnlos?


Bildungsministerin spricht von „positiver Entwicklung“

Eine, die wenig besorgt scheint, ist Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Sie nennt den Anstieg gegenüber unserer Redaktion „eine positive Entwicklung“, auch wenn sie sich „mehr Dynamik wünsche.“

„Beschämend“ sei diese „Entwicklung im Schneckentempo“, erklärt hingegen der bildungspolitische Sprecher der FDP, Thomas Sattelberger, angesichts der „dramatischen Expertenlücke“. Die MINT-Frauenförderung sei in der bisherigen Form gescheitert. Laut Sattelberger versuchten die Programme vor allem Interesse zu erzeugen. „Daran mangelt es aber meist nicht.“ Andere Faktoren seien entscheidender.

Etwa die „tief verankerten Stereotypen“, von denen die Bildungsexpertin der Grünen, Margit Stumpp, spricht. Gleichzeitig, sagt Stumpp, fehlten Vorbilder. Und schließlich das „mangelnde Selbstvertrauen der Mädchen in ihre Fähigkeiten“, wie es Ulrich Trautwein, Professor für Bildungsforschung an der Universität Tübingen, nennt. „Wenn es schon in der Grundschule heißt, Mädchen sind gut im Lesen, Jungs gut in Mathe, glaubt man irgendwann daran“, sagt er.

Eltern schätzen Töchter in Naturwissenschaften schlechter ein

Selbst Eltern schätzten bei gleichen Noten die Fähigkeiten ihrer Töchter in den naturwissenschaftlichen Fächern schlechter ein als die ihrer Söhne. „Die meisten MINT-Programme kommen daher zu spät“, sagt Trautwein. In den weitergehenden Schulen seien diese Wahrnehmungen schon verinnerlicht, die Initiativen wirkungslos.

Und nicht nur das. Manche MINT-Initiativen scheinen gar eine abschreckende Wirkung zu erzielen, wie ein Beispiel der Universität Dresden zeigt. „Absolut erniedrigend“ nennt Studentin Luzie Kirchner das Video eines Professors ihrer Fakultät, das sich besonders an weibliche Interessenten richten sollte. „You’ll have greater flirts than all the other nerds“, heißt es darin etwa. Zu deutsch: „Du wirst bessere Flirts haben, als all die anderen Sonderlinge.“

Zu sehen sind zwei hüftschwingende Studentinnen auf High-Heels, die von ihren männlichen Kommilitonen umworben werden. „Wenn das ernst gemeint ist, Frauen als passive, biegsame Wesen, haben wir wirklich ein großes Problem.“

Im Osten mehr Frauen in Technikberufen als im Westen

Wie wichtig das Umfeld für die Berufswahl ist, machen auch 30 Jahre nach der Wende die Unterschiede innerhalb Deutschlands deutlich: Laut IW arbeiten in Berlin in den MINT-Branchen mehr als 20 Prozent Frauen, in Thüringen knapp 18 Prozent, im Saarland dagegen nur 12,5 Prozent.

„In Ostdeutschland waren zur DDR-Zeit mehr Frauen in MINT-Berufen tätig“, sagt IW-Studienautor Axel Plünnecke. In Westdeutschland passiere es öfter, dass Eltern ihren Töchtern Berufsträume wieder ausredeten.

Laut Grünen-Politikerin Stumpp könnten die bisherigen MINT-Programme daher allemal ein „Mosaikstein“ sein. Eine echte Trendwende müsse her. Eine „Positivspirale“, die alte Rollenmodelle verändert, nennt es Acatech-Sprecher Thomas Lange.

„Solange es jedoch nicht den politischen Wille dazu gibt, unter anderem weil Fachkräfte auch in typischen Frauenberufen inzwischen Mangelware sind“, so Stumpp, „wird sich am geringen Frauenanteil in den MINT-Berufen nichts ändern.“

Microsoft-Chefin: Auf Potenzial weiblicher Talente nicht verzichten

Davor warnt die Chefin von Microsoft in Deutschland, Sabine Bendiek, eindrücklich: Auf das „Potenzial weiblicher Talente zu verzichten“ sei in doppelter Hinsicht gefährlich. IT- und MINT-Qualifikationen seien in Zukunft für rund 90 Prozent aller Berufe erforderlich.

Mehr Frauen seien daher nicht nur für den internationalen Wettbewerb wichtig, sondern auch für deren persönliche Beschäftigungsfähigkeit. Gerade hatte auch eine Studie der Hochschule Fulda belegt: Andere, eher weiblich dominierte Tätigkeiten gehörten in Zeiten zu den gefährdetsten Branchen, darunter Sekretariats- und Verkaufsberufe. Auch wenn andere, vorrangig von Frauen ausgeführte Arbeiten wie die Pflege auch weiter bestehen bleiben.

Fehlende weibliche Sicht auf Künstliche Intelligenz

Zudem, so Microsoft-Chefin Bendiek, fehle ansonsten eine korrigierende Perspektive, gerade bei Technologien wie Künstlicher Intelligenz. In die Entwicklung von Algorithmen flössen unbewusste Vorurteile, die Frauen noch mehr benachteiligten, indem sie etwa seltener Kredit- oder Versicherungsverträge erhielten. Aus ihrer Sicht sei es hilfreich, den Nutzen von MINT mehr in den Vordergrund stellen. „Junge Frauen wollen sehen, wie sich Probleme lösen lassen, ob in der Krebsforschung oder beim Klimawandel.“

Auch Luzie Kirchner wollte wie viele ihrer Freundinnen nach der Schule „etwas machen, das die Welt verbessert und kreativ ist“. Die meisten dachten damals an „Menschen und Medien statt an Maschinen“. Anders dagegen ihre Mutter. „Werd‘ doch Erfinderin, meinte die.“ Da merkte Kirchner: „Jemand traut mir das zu.“