Braunschweig. Vier Jahre nach Auffliegen des Dieselskandals kommt es zum ersten Mammutprozess gegen VW. Dabei wird ein neues Instrument eingesetzt.

Der Andrang war geringer als gedacht. Im Zuge der Diesel-Affäre von VW kamen am Montag nur rund 160 Zuhörer zum Auftakt der Musterklage gegen VW vor das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig.

Die Verhandlung war angesichts der klagenden rund 469.000 Verbraucher in die Stadthalle verlegt worden. Grundsätzlich erklärte das Gericht die Musterfeststellungsklage gegen manipulierte Abgaswerte von Dieselautos für zulässig.

VW-Diesel-Affäre vor Gericht: Wie bewerten die Richter den Fall?

Das Oberlandesgericht Braunschweig (OLG) hat am Montag eine erste vorläufige Bewertung abgegeben. Demnach sind die Richter der Auffassung, dass ein Schadenersatz eher ausscheidet, wenn die Kunden ihr Auto nicht direkt bei VW, sondern bei einem Händler gekauft haben. Ob ansonsten ein Schadenersatzanspruch besteht, sei aber wegen entsprechender Urteile anderer Oberlandesgerichte sehr ernsthaft zu prüfen und ausführlich zu diskutieren. Sollte tatsächlich ein Schadenersatz gezahlt werden, müsste die Nutzung angerechnet werden.

Was heißt das für die Betroffenen?

Bei einem rechtsgültigen Urteil, das vielleicht erst in ein paar Jahren fällt, könnte von einem Schadenersatz womöglich wenig übrig bleiben, da ihre Fahrzeuge mit jedem Monat an Zeitwert verlieren. Kläger-Anwalt Marco Ulbrich wies eine Anrechnung der Nutzung deshalb direkt zurück. Die erste vorläufige Einschätzung ist für die rund klagenden Verbraucher besonders relevant: Denn sie haben nur noch an diesem Montag die Chance, von der Sammelklage zurückzutreten, um eventuell doch noch eine individuelle Klage einzureichen.

Ist ein Vergleich möglich?

Der Vorsitzende Richter, Michael Neef stellte klar, dass auch die Musterfeststellungsklage „natürlich“ auf einen Vergleich ausgerichtet sei. „Ein Vergleich ist sehr schwer, aber möglich“, sagte der Vorsitzende Richter Michael Neef. Allerdings wäre die Festlegung des Betrags wegen der unterschiedlichen Fallkonstellationen nicht einfach.

Eine außergerichtliche Einigung könnte den Prozess aber deutlich abkürzen und den Kunden die Einzelklagen ersparen, die im Anschluss nötig wären, falls der Verbraucherzentrale-Bundesverband gewinnen würde. Die Klägerseite bekräftigte ihre Bereitschaft zu einem Vergleich.

VW blieb jedoch zunächst dabei, dass dieser kaum vorstellbar sei – allein schon, weil die endgültige Zahl der wirksamen Anmeldungen für die Klage nicht überschaubar sei.

Was reagieren die Verbraucherschützer?

Die Verbraucherzentralen haben sich zufrieden mit dem Start des Diesel-Musterverfahrens gegen Volkswagen gezeigt. „Das Gericht hat die Verhandlung bisher sehr gut geführt und hat auch aus unserer Sicht Andeutungen gemacht, dass es zu einer Verurteilung kommen kann“, sagte Anwalt Ralf Stoll, der den Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) in Braunschweig vertritt. „Ich bin positiv überrascht.“ Auch vzbv-Juristin Jutta Gurkmann sagte: „Wir sind durchaus positiv gestimmt.“

Wer klagt für wen?

Mit der Musterfeststellungsklage klagen Verbraucherschutzzentralen und ADAC im Zuge der Diesel-Affäre stellvertretend für 470.000 VW-Besitzer vor dem Oberlandesgericht Braunschweig. Es handelt sich um Autos der Marken VW, Audi, Seat und Skoda, die mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 ausgerüstet sind. Der Dieselmotor, der seit November 2008 verbaut wurde, enthält eine illegale Software zur Manipulation der Abgasemissionen.

Wie lauten die Vorwürfe? Wie die Verteidigung?

Die Verbraucherschützer werfen VW vor, mit der Abgassoftware die Kunden vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt zu haben. VW sei deshalb zu Schadenersatz verpflichtet. VW dagegen behauptet, dass die Fahrzeuge weiter technisch sicher fahren und die Kunden aus ihrer Sicht deshalb keinen Schaden erlitten hätten.

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Wann ist mit einem Urteil zu rechnen?

Dies lässt sich seriös nicht vorhersagen. Das Verfahren kann sich mehrere Jahre in die Länge ziehen oder auch innerhalb weniger Monate mit einem Urteil enden. Bislang steht nur ein weiterer Gerichtstermin am 18. November fest, aber kein Verkündungstermin. Fest steht: Je länger sich das Urteil hinzieht, desto geringer dürfte ein möglicher Schadenersatz ausfallen, da der Zeitwert der Fahrzeuge mit jedem Monat sinkt.

Die erste vorläufige Einschätzung ist auch für die rund 469.000 Kunden besonders relevant, die sich der Musterfeststellungsklage angeschlossen haben. Denn am Montag können sie von dieser noch austreten.

Warum erhalten die Kläger nicht gleich eine Entschädigung?

Bei der Musterfeststellungsklage wird grundsätzlich nur verhandelt, ob VW durch den Einbau der Abgaseinrichtungen unrechtmäßig gehandelt hat. Sollten die Richter dies bejahen, müssen im nächsten Schritt die betroffenen Autobesitzer individuell ihre Forderung für eine Entschädigungszahlung vor Gericht durchsetzen. Dies ist sicher ein Nachteil des Musterfeststellungsverfahren, das es als eine neue Form der Sammelklage seit November 2018 in Deutschland gibt. Im Fall einer Niederlage hoffen die Verbraucherschützer wiederum, dass VW aus Imagegründen freiwillig Schadenersatz zahlt. Die Verbraucher müssten das Urteil akzeptieren und könnten in dem Fall nicht erneut gegen VW vor Gericht ziehen.

Was ist der Vorteil einer Musterfeststellungsklage?

Die Musterfeststellungsklage ist für Verbraucher ein günstiger und einfacher Weg, ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Denn die Beteiligung an der Klage ist kostenfrei, die Beteiligung erfolgt per Online-Antrag. Zugleich soll sie die Überlastung der Gerichte durch die Verhandlung immer gleicher Fälle verhindern. Die neue Klageform stärkt insbesondere jene Bürger, die keine Rechtschutzversicherung oder genügend Geld besitzen, um ein privates Verfahren zu bezahlen. Allerdings hat die Klage den Nachteil, dass die Verbraucher ihren persönlichen Schadenersatz in einem weiteren individuellen Verfahren einklagen müssen. Wer eine Rechtsschutzversicherung hat, dem raten deshalb Verbraucherschützer als auch Anwaltskanzleien, den privaten Rechtsweg zu beschreiten. Damit werde jeder einzelne Anspruch im Zuge des Verfahrens sofort festgestellt.

Wie viele private Gerichtsverfahren gibt es gegen VW in Deutschland?

Bislang gab es geschätzt rund 65.000 Einzelverfahren gegen VW. Die meisten mündeten in einen Vergleich. Die Höhe des gezahlten Schadenersatzes ist individuell unterschiedlich, in der Regel wird darüber Stillschweigen vereinbart. Bislang gibt es noch kein höchstrichterliches Urteil gegen VW in Deutschland.

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