Berlin. Laut einem neuen Armutsbericht gelten 16,6 Prozent der Menschen als arm. Zwei Gruppen trifft es besonders hart – und eine Region.

Die Armut in Deutschland hat im zweiten Corona-Jahr ein trauriges Rekordniveau erreicht. Im Jahr 2021 stieg die Armutsquote auf den Höchststand von 16,6 Prozent, wie der Paritätische Gesamtverband erklärte. „Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen voll durch“, sagte Verbands-Geschäftsführer Ulrich Schneider bei der Vorstellung des „Armutsberichts 2021“.

Noch nie sei ein höherer Wert gemessen worden „und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie“. Es gebe „mehr Arme, als wir jemals hatten“.

Hartz IV: Armut in Deutschland steigt auf neuen Höchststand

Dem Bericht zufolge gelten rund 13,8 Millionen Menschen in Deutschland als arm. Das sind 300.000 mehr als im Jahr 2020 und 600.000 mehr als vor Ausbruch der Pandemie. Grundlage sind Zahlen des Statistischen Bundesamts. Als arm gelten laut der Definition Menschen, denen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in der Gesamtbevölkerung zur Verfügung steht.

Die Schwelle lag 2021 für Singles bei 1148 Euro, Alleinerziehende mit einem kleinen Kind bei 1492 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2410 Euro. Bei dieser Definition orientiert sich der Verband an einer EU-Konvention. Das Statistische Bundesamt spricht bei dieser Grenze lediglich von „Armutsgefährdung“.

Menschen, die unter dieser Definition zusammengefasst werden, hätten laut Schneider im täglichen Leben Probleme bei der gesellschaftlichen Teilhabe, beispielsweise in den Bereichen Sport und Kultur.

Armut: Stetiger Negativtrend seit dem Jahr 2006

Seit dem Jahr 2006 beobachtet der Verband einen stetigen Negativtrend. Während die Zahl der Armen vor 15 Jahren noch bei 11,5 Millionen lag, sind es mittlerweile 13,8 Millionen – eine Zunahme von über zwei Millionen.

Ulrich Schneider ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.
Ulrich Schneider ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. © dpa

„Es ist nicht absehbar, wann dieser Trend gestoppt sein sollte“, sagte Schneider. Neue Höchststände bei der Armut gebe es vor allem bei jungen und alten Menschen. So seien 17,9 Prozent beziehungsweise fast ein Fünftel der Rentnerinnen und Rentner betroffen. Bei Kindern und Jugendlichen lag der Anteil mit 20,8 Prozent sogar noch höher.

In Gelsenkirchen liegt die Quote der Kinder in Hartz IV bei 39 Prozent

Regional und lokal können die Zahlen noch deutlich höher sein. So liege beispielsweise in Gelsenkirchen die Quote von Kindern in Hartz IV bei 39 Prozent. „Die Zahlen müssen uns alarmieren“, sagte Schneider. Das Ruhrgebiet sei „die Problemregion Nummer eins in Deutschland“.

Streichungen von Sanktionen bei Hartz IV

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    Unter den 5,8 Millionen Menschen in diesem Teil Nordrhein-Westfalens betrage die Armutsquote 21,1. Bei Kindern und Jugendlichen in dieser Region sei die Lage „noch gruseliger“, sagte Schneider. 22,9 Prozent von ihnen lebten im vergangenen Jahr von Hartz IV. Die geringste Armutsquote unter den Bundesländern weist Bayern (12,6 Prozent) auf, klares Schlusslicht ist Bremen (28 Prozent).

    Zuwachs unter Selbstständigen ist auffallend

    Auffallend in ganz Deutschland sei zudem ein Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere bei Selbstständigen. Ihr Anteil sei im zurückliegenden Corona-Jahr von 9 auf 13,1 Prozent angestiegen. Grund sei, dass diese Gruppen während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten.

    Da sich der Armutsbericht auf Zahlen des Jahres 2021 bezieht, sind darin die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs noch nicht abgebildet. Wegen der anhaltend hohen Inflationsrate ist die Kaufkraft der Bevölkerung derzeit geschwächt.

    Lebenshaltungskosten für viele "pure soziale Not"

    „Für viele sind die erhöhten Lebenshaltungskosten pure soziale Not“, sagte Schneider. Er forderte eine Neuausrichtung des Entlastungspakets der Ampel. „Die Bundesregierung ist aufgefordert, ein zweites Entlastungspaket auf den Weg zu bringen und zielgerichtet auszugestalten“, sagte er. Als Maßnahmen forderte Schneider eine monatliche Grundsicherung sowie geringere Restriktionen beim Wohngeld und beim Bafög.

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    Der Wirtschaftsweise Achim Truger bezeichnete den Anstieg der Armutsrisikoquote als „alarmierend“ und warnte vor weitreichenden Folgen für die Gesellschaft. „Wenn so viele Menschen dauerhaft abgehängt zu werden drohen, dann ist das ein großes soziales Problem“, sagte der Ökonom unserer Redaktion.

    Armut auch eine Gefahr für die Demokratie

    Die Entwicklung stelle auch eine Gefahr für die Demokratie dar, „weil die politische Partizipation zurückgeht“, sagte Truger, der dem Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung angehört.

    Truger forderte dringend eine Nachjustierung der Entlastungspakete. Gerade die untersten 20 Prozent der Bevölkerung seien immer noch am stärksten durch den Energiepreisanstieg belastet. „Da muss es zusätzliche gezielte Entlastungen geben“, verlangte Truger. Zudem müssten die Hartz-IV-Sätze „endlich angehoben werden“. Ferner brauche es eine umfassende Reform des Steuer- und Transfersystems sowie einen Ausbau der Kinderbetreuung, „so dass die Erwerbstätigkeit gerade im Bereich niedriger Einkommen gesteigert werden kann“.

    Union-Sozialpolitiker fordert mehr Unterstützung

    Auch der Sozialpolitiker der Union im Bundestag, Stephan Stracke, fordert die Ampel zu einer stärkeren finanzielle Unterstützung von einkommensschwachen Menschen auf. „Wir brauchen weitere Entlastungen, gerade für die Bezieher niedriger Einkommen“, sagte Stracke unserer Redaktion. Hierzu zähle “eine Inflationsbremse bei der Einkommenssteuer“. Der Staat dürfe „gerade bei geringen Einkommen nicht überproportional mitverdienen".

    Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Soziales der Unionsfraktion sagte, der Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bestätige, dass die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung „keinen spürbaren Entlastungseffekt haben“. Außerdem seien alle Maßnahmen auf drei Monate begrenzt. „Deshalb ist die Bundesregierung hier weiterhin gefordert“, sagte Stracke.

    Armut als "Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt

    Der CDU-Politiker betonte, die hohe Inflationsrate berge überdies auch gesellschaftliche Risiken Ein Ende der Preissteigerungen sei momentan nicht in Sicht, dies sei „eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, warnte Stracke.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.