London. Ex-Premier Johnson versprach, die Briten würden auf sonnigen Höhen die Freiheit von der EU genießen. Doch „Bregret“ greift um sich.

„Kein Zweifel: Der Brexit wird der Retter Großbritanniens sein“, behauptete die Tory-Abgeordnete Esther McVey vor einigen Wochen im „Daily Express“. Sie glaubt in ganz Europa Nachahmer zu sehen, die den EU-Austritt als Vorbild nehmen. Auch ihr Parteikollege David Frost, als Brexit-Chefunterhändler einst eine wichtige Figur in London und Brüssel, hält an der Überzeugung fest, dass der EU-Austritt ein „Erfolg“ war. Doch wird es zusehens einsam um sie.

Viele Britinnen und Briten, die nach den Worten des damaligen Brexit-Premiers Boris Johnson, längst auf „sonnigen Höhen“ die Freiheit von der EU genießen sollten, fröstelt es inzwischen beim Gedanken an den Austritt. Nur noch neun Prozent halten den Brexit für einen Erfolg.

Großbritannien: Brexit-Kater hat so richtig eingesetzt

Mehr als sieben Jahre nach dem EU-Referendum und zweieinhalb Jahre nach dem eigentlichen Austritt aus der EU hat der Brexit-Kater so richtig eingesetzt. Unternehmen klagen über mehr Bürokratie, obwohl der Brexit den Papierkram hätte reduzieren sollen. Musiker haben Visa-Probleme und müssen Touren im EU-Raum absagen. Britische Tourististinnen und Touristen stehen Schlange an den Zollkontrollen – und in der Gastronomie und der Landwirtschaft fehlen die Arbeitskräfte.

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Die „Brexitiers“ behaupten zwar weiter, dass nicht der EU-Ausstieg, sondern die Covid-Pandemie und Russlands Krieg gegen Ukraine Schuld an der Misere seien. Doch nach Berechnungen britischer Wirtschaftsforschungsinstitute ist die EU davon weniger betroffen. Der Brexit habe das Wirtschaftswachstum in Großbritannien noch einmal um fünf Prozentpunkte gedrückt.

„Brexit hat große und anhaltende negative Wirkung gehabt“

Die wirtschaftlichen Schäden sind mittlerweile gut dokumentiert. „Brexit hat eine große und anhaltende negative Wirkung gehabt auf die britischen Warenexporte, besonders für kleinere Firmen“, meint Jonathan Portes vom Thinktank UK in „A Changing Europe“. Ebenso sind die Investitionen stark zurückgegangen – möglicherweise wären sie heute zehn Prozent höher, wenn der Brexit nicht wäre, schreibt Portes. Das Ende der Personenfreizügigkeit hat in vielen Bereichen zu extremen Personalmangel geführt.

Auch in diesem Jahr gab es in London wieder Demonstrationen für die Europäische Union.
Auch in diesem Jahr gab es in London wieder Demonstrationen für die Europäische Union. © IMAGO/ZUMA Wire

Auch die hartnäckig hohe Inflation, die britischen Verbrauchern schwer zu schaffen macht, ist, so glauben Ökonomen, zumindest teilweise dem Brexit geschuldet: Die Einfuhr von Waren auf die Insel ist komplizierter und langwieriger geworden, das treibt die Preise noch einmal in die Höhe. Im Mai publizierte die London School of Economics eine Studie, laut der ein britischer Haushalt im Durchschnitt 250 Pfund (etwa 290 Euro) mehr für Lebensmittel zahlt, als es ohne Brexit der Fall gewesen wäre.

„Bregret“: eine Kombination aus „Brexit“ und „regret“ – Reue

Schon seit geraumer Zeit nimmt der Brexit-Enthusiasmus ab. Mittlerweile ist eine Mehrheit der Meinung, dass der Brexit gescheitert ist. Mitte Juli publizierte das Forschungsinstitut YouGov eine Umfrage, laut der 63 Prozent der Bevölkerung finden, der EU-Austritt habe mehr negative als positive Folgen gehabt. Selbst unter den Briten, die 2016 für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben, sagen 58 Prozent, dass die Regierung den Brexit vermasselt hat. Dieselbe Umfrage kommt zum Schluss, dass 57 Prozent der Bevölkerung den Brexit für einen Fehlentscheid halten - so viele wie noch nie zuvor. Im ganzen Land greift der sogenannte „Bregret“ um sich – eine Kombination aus „Brexit“ und „regret“, also Reue.

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Lange Zeit war Westminster immun gegen solche Ernüchterung. Oder zumindest hielt man sich im Londoner Regierungsviertel daran, jegliche Kritik am Brexit nur zu flüstern. Das galt nicht nur für die regierenden Tories, sondern auch für die oppositionelle Labour-Partei. Diese will nicht den Eindruck erwecken, sie habe vor, den EU-Austritt wieder rückgängig zu machen. Man spricht von der Brexit-Omertà, eine Anspielung auf das Schweigegebot der Mafia.

Brexit hat „offensichtlich nicht in die richtige Richtung geführt“

Aber in den vergangenen Monaten haben sich manche Brexit-Kritiker vorsichtig aus der Deckung gewagt. Anfang Juli sagte der Tory-Abgeordnete Tobias Ellwood, Politiker sollten die „Charakterstärke“ haben, einzugestehen, dass Brexit „offensichtlich nicht in die richtige Richtung geführt hat.“ Bereits Wochen zuvor hatte er eine Rückkehr in den EU-Binnenmarkt geraten, um die Krise der Lebenshaltungskosten zu lindern. Er sagte, er kenne eine Reihe von Parteikollegen, die seine Kritik am Brexit teilen.

Die Labour-Partei gibt sich vorsichtiger. Ein Wiedereintritt in den Binnenmarkt oder die Zollunion sei nicht auf dem Tisch, sagt Parteichef Keir Starmer. Dennoch stellt die Opposition eine nähere Anbindung an die EU in Aussicht: Die erste Revision des Brexit-Abkommens 2025 sei eine Möglichkeit, „Sektor um Sektor“ zu prüfen, wie man besser mit der EU zusammenarbeiten könne, sagte der Labour-Abgeordnete David Lammy.

Regierung lässt einen Brexit-Plan nach dem anderen fallen

Doch die Regierung von Rishi Sunak ist noch weit davon entfernt, irgendwelche Brexit-Bedenken öffentlich zu äußern. Stattdessen macht sie sich im Stillen daran, einen Brexit-Plan nach dem anderen fallenzulassen. Erst letzte Woche fiel der Entscheid, die Einführung einer neuen britischen Produktezertifizierung aufzuschieben. Die Regierung hatte geplant, die in der EU geltenden CE-Zertifikate durch eine britische Version zu ersetzen. Aber nach Warnungen von Unternehmern vor zusätzlichem Papierkram blies die Regierung das Vorhaben ab. Am Donnerstag folgte der nächste Rückzieher: Die Einführung der Zollkontrollen für Tier- und Pflanzenimporte aus der EU wurde zum x-ten Mal verschoben.

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