Die Thüringer Demokratiegeschichte liefert dazu interessante Aspekte. Unser Gastautor Karl-Eckhard Hahn blick auf wissenswerte Details.

Sollen die Bürger den Thüringer Landtag durch ein Volksbegehren und eine Volksabstimmung auflösen können? Etwa 6400 Bürger wollen diese bisher nicht vorgesehene Möglichkeit in der Thüringer Verfassung verankern.

Den Anstoß gab die im Sommer 2021 gescheiterte vorzeitige Selbstauflösung des Thüringer Landtags. Das dazu auf den Weg gebrachte Volksbegehren hat Landtagspräsidentin Birgit Pommer zugelassen, die Widerspruchsfrist ist abgelaufen. Das Vorhaben ist umstritten. Zur besseren Einordnung mag ein Blick in die Thüringer Verfassungsgeschichte und andere Bundesländer beitragen.

Das früheste Beispiel nach dem Ende der Monarchien findet sich in der freistaatlichen Verfassung für Schwarzburg-Sondershausen vom 1. April 1919. Damals konnten 4000 Wahlberechtigte, knapp zehn Prozent, eine Volksabstimmung zur Auflösung des Landtags verlangen. Es entschied die einfache Mehrheit. Diese Verfassung war alsbald Geschichte, da Schwarzburg-Sondershausen wie die anderen thüringischen Kleinstaaten 1920 im Land Thüringen aufgingen. Dessen neue Verfassung beriet 1920 der Volksrat.

KPD wollte 1931 die hohe Hürde nehmen und scheiterte deutlich

Nach dem Entwurf Eduard Rosenthals sollten sowohl die Landesregierung als auch das Volk durch Volksentscheid das Recht erhalten, das Parlament aufzulösen. Die Regierung müsse bei einer gestörten Zusammenarbeit die Möglichkeit haben, „an die Vollmachtgeber der Landtage, an die Wähler zu appellieren“. Die Mehrheit wandte ein, dass die Regierung nicht die Auflösung eines Parlaments betreiben könne, dem sie ihre Legitimation verdanke. So blieb in der Verfassung von 1920/21 allein das Recht der Bürger stehen, die Auflösung des Landtags anzustreben. Ein Zehntel der Wahlberechtigten war für das Volksbegehren erforderlich. Im Volksentscheid musste die Mehrheit aller Stimmberechtigten zustimmen, also nicht allein die der Abstimmenden. Lediglich die KPD versuchte im Frühjahr 1931 diese hohe Hürde zu nehmen, scheiterte jedoch bereits am Volksbegehren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beriet der im Oktober 1946 unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungsherrschaft gewählte Thüringer Landtag eine neue, am 20. Dezember 1946 verabschiedete Thüringer Verfassung. Sie enthielt ebenfalls ein Recht der Bürger, den Landtag durch Volksentscheid aufzulösen. Die Hürden waren niedrig. Für ein erfolgreiches Volksbegehren war ein Zehntel der Stimmberechtigten erforderlich. Beim Volksentscheid sollte lediglich die Mehrheit der Abstimmenden den Ausschlag geben. Zudem privilegierte die Verfassung zugelassene Parteien und Organisationen. Sie konnten bereits einen Volksentscheid beantragen, sofern sie „glaubhaft machen, dass sie wenigstens ein Fünftel der Stimmberechtigten vertreten“. Es gibt keinen Anwendungsfall für diese abenteuerliche Norm, denn die Thüringer Verfassung von 1946 war auf dem Weg in die Diktatur alsbald Makulatur.

Mit der Friedlichen Revolution 1989/90 stellte sich die Frage nach einer Thüringer Landesverfassung neu. Im Gründungsprozess Thüringens erarbeitete unter anderem eine Arbeitsgruppe des Politisch-Beratende Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen (PbA) einen Verfassungsentwurf. Auch er enthielt die Möglichkeit, den Landtag durch Volksbegehren und Volksentscheid aufzulösen. Ein entsprechender Volksentscheid sollte stattfinden, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten ihn verlangte. Regeln zu Beteiligungs- oder Zustimmungsquoren fehlten.

Vorschlag schafft es 1990nicht in die neue Verfassung

Der am 14. Oktober 1990 gewählten Thüringer Landtag griff auf diesen im PbA umstrittenen Entwurf nicht zurück. Stattdessen brachten alle Fraktionen eigene Verfassungsentwürfe ein. Eine vorzeitige Auflösung des Landtags durch Volksentscheid sah lediglich jener der LL/PDS vor. Einem Volksbegehren hätte ein Fünftel der Stimmberechtigten in einem halben Jahr zustimmen müssen. Für den Volksentscheid sollte die Mehrheit der Abstimmenden ausschlaggebend sein, sofern sie mindestens einem Viertel der Stimmberechtigten entsprach.

Während die SPD im Unterausschuss des Verfassungsausschusses den Vorschlag unbeschadet der Details unterstützte, ging die CDU auf Distanz: Der Landtag zweifele letzten Endes seine eigene Legitimation an. Der Vorschlag schaffte es nicht in die Verfassung. Auch in den zahlreichen Anträgen auf Verfassungsänderungen seit 1994 spielte die Forderung keine Rolle mehr.

Soweit der Blick in die Texte. Was weitgehend fehlt, ist eine entsprechende politische Praxis. Wie sieht es in anderen Bundesländern aus? Verfahren, vorgezogene Neuwahlen durch Volksentscheide herbeizuführen, sehen die Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen und Rheinland-Pfalz vor. Nach einer Analyse von Mehr Demokratie e.V. aus dem Jahr 2014 waren bis dahin lediglich zwei Anträge in Baden-Württemberg und neun Anträge in Berlin zu verzeichnen.

In keinem Fall wurde ein Landesparlament durch Volksentscheid aufgelöst. Zuletzt scheiterte ein Volksbegehren zur Abberufung des Landtags in Bayern im Oktober 2021 deutlich.

Angesichts der hohen Hürden überrascht dies nicht. Käme es tatsächlich zu Volksabstimmungen, müssten in Baden-Württemberg, Brandenburg und Bremen 50 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen. Bayern kennt zwar kein solches Zustimmungsquorum, dafür ist die Sammlungsfrist für das erforderliche Volksbegehren mit 14 Tagen extrem kurz. Nur in Berlin und Rheinland-Pfalz sind die Hürden erheblich niedriger. Für Berlin gibt es zumindest Indizien für indirekte Effekte des Instruments. So gingen der Selbstauflösung des Berliner Abgeordnetenhauses in den Jahren 1981 und 2001 entsprechende Volksbegehren voraus. Wie also stellt sich das aktuelle Thüringer Volksbegehren im Vergleich dar? Die vorgeschlagene Sammlungsfrist von vier Monaten, zehn Prozent der Stimmberechtigten für ein erfolgreiches Volksbegehren und das Zustimmungsquorum von 40 Prozent entsprechen den Regeln für Verfassungsänderungen in der Thüringer Verfassung. Hinsichtlich des am Ende entscheidenden Zustimmungsquorums sind die Hürden damit zugleich etwas niedriger als in der Thüringer Verfassung von 1920/21 oder heute in den Ländern Baden-Württemberg, Brandenburg und Bremen. Anspruchsvoll sind sie gleichwohl.

Im bevorstehenden Volksbegehren wird sich zeigen, ob ein maßgeblicher Teil des Volkes tatsächlich ein Recht begehrt, einen von ihm gewählten Landtag nach Hause schicken zu können. Der Blick in die thüringische Verfassungsgeschichte und auf die anderer Länder legt eines nah: Weder überzogene Erwartungen noch besondere Befürchtungen sind hinsichtlich dieser Möglichkeit gerechtfertigt.

Dr. Karl-Eckhard Hahn, Historiker und Mitarbeiter des Thüringer Landtags. Der Gastautor gibt allein seine persönliche Auffassung wieder