Berlin. Wieler wurde in der Pandemie oft überhört. Mit brutaloffenen Analysen verschafft sich der RKI-Präsident nun Respekt. Und wird gehört.

Ruhig, sachlich, warnend und mahnend, dabei stets kontrolliert. So kennt man Lothar Wieler, den Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI). Seit Tagen lässt er mit Kritik aufhorchen. Offen, direkt, beißend. Ein Mann im Jetzt-reichts-Modus. Die Warnungen sind nicht neu, die Tonspur schon.

Seine Modellierungen zur Corona-Pandemie sind unerbittlich. Wenn die Kontakte nicht drastisch reduziert werden, „werden wir auch eine fünfte Welle bekommen“, warnte Wieler. Wieder so eine Prognose, wie damals im Juli, als er eine vierte Welle im Herbst voraussagte. Und weitgehend ungehört blieb.

RKI-Chef Lothar Wieler: Der Rufer in der Wüste

„Dass man offensichtlich immer wieder die Hand auf die heiße Herdplatte legen muss, um zu merken, dass man sich dann verbrennt“, verwundert den RKI-Präsidenten. „Das ist ernüchternd, gar keine Frage“, sagte er der „Zeit“. Vor allem Politiker dürfen sich angesprochen fühlen. Sie haben ihn überhört.

Es war Zeit, seine Kommunikation zu ändern. Der Wendepunkt: eine Online-Schalte in der vergangenen Woche mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). 52.000 Neuinfektionen waren an dem Tag gemeldet worden, und Wieler rechnete „superdüster“ vor, dass davon 400 Menschen sterben würden.

„Niemand von uns, der hier sitzt, kann diesen Typen noch helfen. Das ist ein Eimer Wasser, der ist ausgeschüttet, den kriegen Sie nicht mehr rein“, sagte er. Da war er. Der Moment, als Wieler jede Rücksicht fallen ließ. Allein bei YouTube wurde das Video mit Wielers Brandrede über 200.000-mal abgerufen.

Corona: Wer trägt Verantwortung für die vierte Welle?

Damit verschaffte er sich Respekt, wenn auch zunächst nur auf Twitter: Mit #DankeWieler. Ein User schrieb, „ach Herr Wieler, unsere Stimme in der Wüste“. Seit er seinen Ton verschärft hat, kommt Wieler besser an.

Er selbst hatte beinahe entschuldigend angemerkt, „das ist ‘ne klare Sprache“. Aber er könne nach 21 Monaten „es auch schlichtweg nicht mehr ertragen, dass es nicht vielleicht erkannt wird, was ich unter anderem sage und auch viele andere Kolleginnen und Kollegen“.

Die Frage ist nur, ob er auch die Entscheidungsträger erreicht. Eines hat Wieler immerhin geschafft: eine Linie gezogen. Nennen wir es die Trennlinie zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit.

Lothar Wieler ist es leid, nicht gehört zu werden.
Lothar Wieler ist es leid, nicht gehört zu werden. © dpa | Kay Nietfeld

Es geht darum, wer politisch die vierte Welle verantwortet; und vielleicht auch, ob der Rat des 60-Jährigen bei der künftigen Regierung gefragt sein wird. Das würde das Timing seiner neuen Heftigkeit erklären, mitten in einer Übergangsphase, in einem Machtvakuum.

Viele Virologen sind frustriert. Wundern sich wie Melanie Brinkmann, warum Großveranstaltungen gestattet werden. Oder klagen wie Christian Drosten über zu milde Maßnahmen: „Man kann doch nicht in einer Notfallsituation Dinge vorschlagen, von denen man eigentlich genau wissen müsste, dass sie nicht funktionieren werden“, sagte er in seinem Podcast. Der Titel: „SOS - Iceberg, Right Ahead!“

Drosten sagt über sich, er wolle kein Papagei werden, der immer dieselbe Botschaft verbreitet. Wieler betrachtet es als seine Aufgabe, zur Not auch das zu sein: ein Papagei. Das sei er „schon lange“.

Lothar Wieler bekommt Morddrohungen

Im Oktober hatte er erstmals einen Einblick in sein Innerstes erlaubt, einen Spalt breit. Damals erzählte er unserer Redaktion von Morddrohungen, damals spürte man bei der Lektüre, wie verletzlich er war – eine Grenzerfahrung, die ein weiterer Kassandra-Rufer mit ihm teilt: SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach.

Todesdrohungen hätten sich Lauterbach oder Drosten und schon gar nicht Wieler vorstellen können, als Wieler 2015 die Leitung des RKI übernahm. „Genau wie man sich nicht vorstellen kann, zwölf zu null zu verlieren, wenn man in einer Fußballbundesligapartie auf den Platz geht“, hat der 60 Jahre alte Fachtierarzt für Mikrobiologie „Zeit Online“ gesagt.

Fragen nach den Drohungen wehrt er neuerdings ab. Seine Aufgabe sieht der Beamte darin, die Gesundheitslage faktenbasiert darzustellen. Punkt.

Lob kann dem RKI-Chef den Schlaf rauben

Das Problem besteht darin, „dass die Delta-Variante die Karten neu gemischt hat“, erläutert Drosten. Sie sei sehr schnell übertragbar, auch über Geimpfte. Und hier wird das kollektive Missverständnis im Sommer deutlich: Die politisch Verantwortlichen sahen mit der Impfpflicht auch die Rückkehr zur Normalität voraus, die Drostens oder Wielers aber aufgrund von Delta das genaue Gegenteil: eine Notfall-Situation.

Nicht alle teilen den dramatischen Befund, der Virologe Klaus Stöhr findet ihn überzogen. Aber auch er meint, „der Winter wird hart, was die Zahl der Fälle betrifft. Aber: Es ist immer noch nicht angekommen, dass die Pandemie erst dann vorbei ist, wenn sich alle infiziert haben.“ Oder per Impfung immun sind.

Neben Delta ist Wielers Erklärung für die aktuelle Situation („noch nie so ernst wie jetzt“), dass die Menschen mobiler sind und mehr Kontakte haben als vor einem Jahr, und dass viel zu wenige geimpft sind. Die Impflücke bei den Erwachsenen von rund 15 Millionen Menschen müsste ihm den Schlaf rauben.

In den 21 Monaten seit Beginn der Pandemie habe er trotzdem gut geschlafen, „sonst wäre ich nicht mehr hier im Dienst“. Aber neulich nach der Schalte mit Kretschmer war er denn doch zu aufgewühlt, als er erfuhr, dass ihm auf Twitter plötzlich Tausende dankten für seine klaren Worte. Das hat ihn umgetrieben, „es hat mich gefreut, aber ich habe eine Stunde weniger geschlafen“.