Berlin. Gazprom hat angekündigt, dass durch die Pipeline Nord Stream 1 ab diesem Samstag anders als angekündigt kein Gas fließen wird.

Dramatische Wende in der Zitterpartie um russische Gaslieferungen: Russland liefert vorerst gar kein Erdgas mehr durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Der Energiekonzern Gazprom sagte eine ursprünglich für Samstag geplante Wiederaufnahme der Gaslieferung nach dreitägigen Wartungsarbeiten am Freitag Abend überraschend ab.

Begründet wurde die Entscheidung mit einem Ölaustritt in der Kompressorstation Portowaja an der russischen Ostseeküste, wo das Gas in die Pipeline eingespeist wird. Die letzte Turbine, die dort noch arbeitet, müsse nun erst repariert werden, erklärte das Unternehmen. Wie lange die Unterbrechung dauert, ist unklar.

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Gazprom nimmt Gastransport durch Nord Stream 1 nicht wieder auf

Damit bestätigten sich frühere Befürchtungen in Berlin, die neuen Wartungsarbeiten in dieser Woche könnten der Auftakt zu einem längeren Lieferausfall sein. Die Gaszufuhr über Nord Stream 1 war am Mittwoch gestoppt worden. Die als Begründung genannten „Wartungsarbeiten“ werden in Berlin aber mit großem Misstrauen betrachtet: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach von einer „Farce um die Turbine herum“. Seines Wissens sei die Pipeline derzeit „voll auslastfähig“.

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Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, hatte gesagt, die Wartungsarbeiten seien „technisch nicht nachvollziehbar“. Die Arbeiten sollten am Freitag abgeschlossen werden. Für die frühen Morgenstunden des Samstags wurde am Freitag der Neustart avisiert – dann sollten täglich 33 Millionen Kubikmeter Erdgas geliefert werden, also wie zuvor jene 20 Prozent der täglichen Volllast, auf die Russland die Lieferung schon im Juli heruntergefahren hatte.

Brief an Chef von Siemens Energy

Doch am Abend berichtete Gazprom dann von einem Leck, das bei den gemeinsam mit Fachleuten des Unternehmens Siemens Energy durchgeführten Wartungsarbeiten an der Station festgestellt worden sei. Das ausgetretene Öl sei an mehreren Stellen gefunden worden.

Es sei nicht möglich, den sicheren Betrieb der letzten dort noch verbliebenen Gasturbine zu garantieren. Schon in der Vergangenheit sei es zu solchen Ölaustritten gekommen, hieß es weiter. Ein Brief über die Beanstandungen am Aggregat und über die notwendigen Reparaturen sei an den Chef von Siemens Energy, Christian Bruch, gegangen.

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Völlig überraschend kam die Wende am Freitagabend nicht. Es war in Deutschland aufmerksam registriert worden, dass Gazprom-Chef Alexej Miller und die russische Regierung seit Tagen verstärkt technische Probleme beklagten und die Verantwortung dafür dem Westen zuwiesen. Die Zuverlässigkeit der Nord-Stream-Leitung sei gefährdet, weil es keine technischen Reserven gebe, hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärt. „Es läuft nur eine Turbine“. Miller beklagte, Siemens Energy sei nicht in der Lage, die geplante Wartung vorzunehmen.

Größere Wartungsarbeiten an der Röhre seien wegen der Sanktionen des Westens nicht möglich. Siemens Energy wies die Kritik zwar zurück – das Unternehmen habe aktuell gar keinen Auftrag zur Wartung der Turbinen, biete aber jederzeit Unterstützung. Doch machte die russische Regierung gar keinen Hehl daraus, welche Karten sie noch in der Hand hält: Kreml-Sprecher Dmitri Peskow schloss schon am Donnerstag einen Total-Lieferstopp nicht aus.

Habeck schon seit längerem skeptisch

Auf die Frage, ob Nord Stream 1 komplett stillgelegt werden könnte, meinte er, diese Frage müsse Siemens Energy gestellt werden. „Bekanntlich ist Siemens der Hersteller, es handelt sich um sehr spezielle High-Tech-Ausrüstung, und man findet weltweit nicht viele Unternehmen, die sie warten können.“ Russland sei ein zuverlässiger Lieferant, doch werde Gazprom von der europäischen Seite Hindernisse in den Weg gelegt.

Klagen über Turbinenprobleme sind nicht neu: Schon die massive Drosselung der Liefermenge auf 20 Prozent Ende Juli war mit damit begründet worden. Damals verwies Russland auf eine in Kanada gewartete Turbine für die Kompressorstation und forderte die Rückgabe. Deutschland bat die kanadische Regierung, die Turbine freizugeben und damit eine Ausnahme von den westlichen Sanktionen gegen Moskau zu machen. Ottawa willigte ein, inzwischen befindet sich die Turbine seit Wochen im nordrhein-westfälischen Mülheim. Nur: Wann das Aggregat nach Russland gebracht und eingebaut wird, ist völlig offen. Gazprom zeigt bei der Montage keine Eile und beklagt sich über fehlende Papiere.

Die Bundesregierung verfolgt das Hin und Her seit Monaten mit einer Mischung aus Empörung und Fassungslosigkeit. Die technischen Probleme waren bislang aus Sicht Berlins nur vorgeschoben. Direkte Gespräche der Regierung mit Gazprom gibt es nicht, Habeck zeigte sich aber schon in den letzten Tagen sehr skeptisch: „Wir sollten nicht darauf bauen, dass über den Winter Gas aus Nord Stream 1 kommt“, hatte der Minister erklärt. „Womit ich rechne, ist, dass wir uns auf keinen Fall auf Russland verlassen können oder auf Gazprom verlassen können.“

Das meiste Gas kommt inzwischen aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien

Die Bundesnetzagentur verwies am Freitagabend auf die Bedeutung der deutschen Vorsorgemaßnahmen. „Gut, dass Deutschland inzwischen besser vorbereitet ist, jetzt kommt es aber auf jede/n an“, erklärte Behördenchef Müller als Reaktion der Gazprom-Nachricht.

Den überwiegenden Anteil an Erdgas erhält Deutschland inzwischen aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien. Nach Angaben der Bundesnetzagentur flossen am Donnerstag rund 2900 Gigawattstunden Erdgas aus diesen Ländern nach Deutschland – über Nord Stream 1 kamen am Montag, vor dem Lieferstopp, rund 348 Gigawattstunden russisches Erdgas.

Die EU-Kommission reagierte derweil empört auf die Gazprom-Mitteilung: „Die Ankündigung von Gazprom von heute Nachmittag, Nord Stream 1 erneut unter falschen Vorwänden stillzulegen, ist ein weiterer Beleg seiner Unzuverlässigkeit als Lieferant“, schrieb ein Sprecher der EU-Kommission am Freitagabend auf Twitter. Es sei auch ein Beweis für den Zynismus Russlands, da es vorziehe, Gas zu verbrennen statt Verträge zu erfüllen. (mit dpa/fmg)

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.