Berlin. Eine übliche Krankheitswelle im Herbst bringt viele Kitas an den Rand des Machbaren. Elternvertreter und Gewerkschaften schlagen Alarm.

Man kann das Drama in den Schlagzeilen der Lokalnachrichten nachlesen. „Kita-Schließung bringt Eltern auf die Palme“, „Halbe Belegschaft arbeitsunfähig“, „Kita geschlossen, weil die Erzieher fehlen“, solche Berichte gibt es derzeit aus vielen Teilen Deutschlands. Immer wieder erfahren Eltern kurzzeitig, dass das Personal nicht reicht, dass Gruppen zusammengelegt, Öffnungszeiten verkürzt oder gleich Einrichtungen temporär geschlossen werden.

Erkältungsviren, Corona, die ersten Grippeerkrankungen – dass im Herbst eine Krankheitswelle durch das Land rollt, ist nicht ungewöhnlich. Doch in den Kitas trifft sie in diesem Jahr auf Einrichtungen, Fachkräfte und Familien, die kaum noch Reserven haben. Schon eine Person, die ausfällt, kann eine große Lücke reißen.

Exakte Zahlen, wie viele Einrichtungen betroffen sind, gibt es nicht. Doch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht ein flächendeckendes Problem: „Wir schätzen, dass mindestens 30 Prozent der Einrichtungen das Angebot einschränken müssen“, sagt Doreen Siebernik, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW. Seit langem kämpfen die Kitas mit Personalmangel. Im Oktober kam eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zu dem Ergebnis, dass bis 2023 rund 308.800 Fachkräfte in Kitas zusätzlich benötigt werden für einen kindgerechten Betreuungsschlüssel.

Kita: Erfahrene Erzieherinnen gehen, weil die Perspektive fehlt

Doch in den vergangenen Monaten habe sich das Problem weiter verschärft, sagt Siebernik. „Viele fühlen sich im Stich gelassen“, sagt sie über die Erzieherinnen und Erzieher. Nach zwei Jahren Pandemie sei die Situation immer noch sehr schwierig, aber kaum jemand schaue noch hin. „Und es gibt kaum eine Perspektive, dass es besser wird.“

Erfahrene Erzieherinnen würden deshalb nach Dekaden den Beruf verlassen. Und unter denen, die nachkommen sollen, steige angesichts der Arbeitsbedingungen ein Viertel in den ersten Jahren nach dem Abschluss der Ausbildung schon wieder aus. Unterm Strich steht laut Siebernik ein „Exodus“.

Für Eltern bedeutet das, dass der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem 1. Geburtstag des Kindes vielerorts nur noch auf dem Papier besteht. „Das System ist dem Kollaps nahe“, so beschreibt es Katharina Queisser. Sie ist Sprecherin der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege (Bevki), und was sie und ihre Kollegen und Kolleginnen derzeit aus fast allen Teilen Deutschlands hören, sei dramatisch, sagt sie. „Es ist ein Zustand, der nicht aushaltbar ist für Eltern, für Familien.“ Längst spiegele sich das auch bei den Kindern wider – gerade die Kleinsten kommen nicht gut damit klar, wenn sich ständig Abläufe ändern.

Kitas: „Am Ende geben wir uns mit Aufbewahrung zufrieden“

Wo es Fachkräften gelinge, die Einrichtungen offen zu halten, dann oft nur mit Abstrichen. Schon ein Elterngespräch pro Jahr sei vielerorts schwierig, der pädagogische Anspruch der Einrichtungen und Fachkräfte sei oft nicht mehr zu erfüllen. Dabei sollen Kitas Bildungsorte sein, sollen Kinder vorbereiten auf die Schule und so gut es geht dazu beitragen, ungleiche Startchancen auszugleichen. „Am Ende geben wir uns mit Aufbewahrung zufrieden“, sagt Queisser, „und das darf nicht sein.“

Die Situation in den Kitas hat Folgen auch für die Gesundheit der Eltern. Eine Auswertung des Versicherungsunternehmens Axa aus diesem Jahr kam zu dem Schluss, dass die psychische Belastung von Müttern in Deutschland „erheblich“ über dem europäischen Schnitt liegt, zwei Jahre Corona haben tiefe Spuren hinterlassen.

Der Bedarf nach Hilfe ist groß, sagt auch Yvonne Bovermann, Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks. Die Kliniken der Organisation, die Kuren für Eltern und Kinder anbietet, seien zum Teil bis weit ins nächste Jahr hinein ausgebucht, die Beratungsstellen berichteten von 30 Prozent mehr Anfragen. „Das ist dramatisch“, sagt Bovermann. Eine Kur sei eine Art letzte Lösung, wenn jemand nicht mehr könne. „Die Frauen, die zu uns kommen, kommen in einem häufig sehr schlechten Zustand in den Kliniken an, sie sind oft die ersten drei, vier Tage kaum in der Lage, am therapeutischen Geschehen teilzunehmen.“ Und längst nicht für alle, die Hilfe bräuchten, gibt es Plätze.

Kliniken des Müttergenesungswerks sind bis weit ins nächste Jahr ausgebucht

Den Weg in eine Kur, sagt Bovermann, fänden Leute mit hohem Bildungsgrad leichter, weil sie ein Netzwerk hätten, über das sie erfahren, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. „Gerade Mütter aus vulnerablen Familien finden den Zugang oft nicht“, für Väter sei es noch schwieriger.

Im Bundesfamilienministerium weiß man um die schwierige Situation vieler Familien. „Der Balanceakt zwischen Familie, Haushalt und Arbeit ist einer der größten Stressfaktoren für Familien in Deutschland“, sagt Familienministerin Lisa Paus (Grüne) dieser Redaktion. „Ist die Kita geschlossen, setzt das sofort den gesamten Familienalltag unter Druck.“ Stabile Betreuungsangebote würden zur wirtschaftlichen Absicherung von Familien dazu gehören. „Wir wissen, dass viele Mütter gern mehr Zeit für ihren Beruf hätten und sie werden dringend am Arbeitsmarkt gebraucht.“

Paus verweist auf das geplante Kita-Qualitätsgesetz der Ampel-Regierung. Vier Milliarden Euro will der Bund den Ländern, die für Bildungspolitik zuständig sind, zur Verfügung stellen, unter anderem, damit Einrichtungen Fachkräfte besser halten und dazugewinnen können. „Wir lassen die Kitas nicht allein“, verspricht sie.

Das Geld soll ab 2023 kommen. In diesem Herbst allerdings werden wohl noch viele Eltern zumindest vor vorübergehend geschlossenen Kita-Türen stehen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de