Berlin/Kiew. Ukrainische Behörden machen grausige Entdeckungen zu russischen Kriegsverbrechen in der Ostukraine. Die Suche nach den Tätern läuft.

Nach dem Rückzug russischer Truppen im Osten der Ukraine machen die ukrainischen Behörden grausame Entdeckungen: In den kürzlich befreiten Gebieten stoßen sie nun auf zahlreiche Spuren von Kriegsverbrechen russischer Soldaten. Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums haben die Besatzer im Gebiet von Charkiw an mindestens zehn Standorten gezielt und organisiert ukrainische Bürger in „Folterräumen“ gequält. Innerhalb einer Woche haben die Behörden in über 200 Fällen Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen eingeleitet.

Entsprechend alarmiert zeigen sich ukrainische Ermittler auch von einem Grabfeld mit mehr als 440 Leichen, das in einem Wald nahe der befreiten Stadt Isjum entdeckt wurde – die Hintergründe sind in diesem Fall allerdings unklar, die Leichen werden jetzt exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht. Der Chefermittler der Charkiver Polizei, Serhii Bolvinov, sagte zu den Todesursachen der Opfer, überwiegend Zivilisten: „Einige wurden erschossen, einige starben an Artilleriefeuer, einige bei Luftangriffen.“

Justizminister Buschmann: Kriegsverbrechen in Ukraine bleiben nicht ungesühnt

Doch berichteten Reporter vor Ort auch von Toten, deren Hände gefesselt gewesen seien. Viele Tote seien noch nicht identifiziert worden, es sind wohl auch viele Opfer eines Angriffs auf ein Apartmentgebäude In Isjum darunter, auch Kinder. Lesen Sie auch: Ukraine: Lambrecht kündigt neue Waffenlieferungen an

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Funde in der Nacht zu Freitag bestätigt. Er forderte die Weltgemeinschaft auf, Russland für die Gräueltaten zur Rechenschaft zu ziehen. „Butscha, Mariupol und jetzt leider auch Isjum - Russland hinterlässt überall Tod“, sagte Selenskyj unter Hinweis auf bereits früher entdeckte Kriegsverbrechen. Im Kiewer Vorort Butscha waren Ende März nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden, die Stadt gilt als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nannte die Meldungen aus Isjum „entsetzlich“ und forderte Ermittlungen. „Offenbar wurde ein Massengrab gefunden, hunderte Zivilisten wurden gefoltert und ermordet“, erklärte Buschmann. „Diese Kriegsverbrechen dürfen und werden nicht ungesühnt bleiben.“

Ukraine: Opfer sind an Hunger gestorben

Der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko beurteilte den neuen Fall zurückhaltender. „Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt“. Es handele sich nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber für Tote. Die Menschen seien teilweise während der Gefechte rund um die russischen Einnahme der Stadt im März ums Leben gekommen, viele seien aber vermutlich an Hunger gestorben.

Dieser Teil Isjums sei abgeschnitten gewesen, die Menschen seien ohne Versorgungsmöglichkeiten eingeschlossen worden. Auch aus anderen Orten der Region werden grausige Entdeckungen gemeldet. Eines der Foltergefängnisse, von denen jetzt der ukrainische Vize-Innenminister Jewhen Jenin spricht, befand sich offenbar in der Polizeistation Balaklija befunden, das die russischen Truppen als Quartier genutzt hatten.

Im Foltergefängnis quälten russische Besatzer ihre ukrainischen Opfer mit Elektroschocks

Dort sind nach Polizeiangaben während der Besatzung stets Dutzende Menschen eingesperrt und mit Elektroschocks gefoltert worden. Eines der Opfer berichtete einem BBC-Reporter, er sei mit den Stromschlägen während eines Verhörs gequält worden, andere hätten die Tortur täglich über Wochen über sich ergehen lassen müssen, die Schreie seien im gesamten Gebäude zu hören gewesen. Ermittler sagen, die Besatzer hätten mit den Gewalttaten Geständnisse von Personen erzwingen wollen, die sie als Militärangehörige verdächtigten, sie hätten aber auch nach Verwandten von Soldaten oder Helfern der Armee gesucht und diese bei Verdacht mitgenommen. Auch interessant: Ukraine-Krieg: Melnyk kritisiert Blockadehaltung der Ampel

Der Leiter der Charkiwer Staatsanwaltschaft, Oleksandr Filtschakow, berichtete, in den Dörfern Hrakowe und Salisnytschne südöstlich von Charkiw seien die Leichen von Menschen gefunden worden, die russische Soldaten während der Besetzung des Ortes getötet und vergraben hätten. Andere Ermittler sprechen von Kriegsverbrechen in praktisch jedem Dorf.

Der Kiewer Vorort Butscha ist das Symbol für schwere Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Bild zeigt einen :Priester, der während einer Zeremonie Särge ür nicht identifizierte Zivilisten segnet, die während der russischen Besatzung in Butscha von den russischen Truppen ermordet wurden.
Der Kiewer Vorort Butscha ist das Symbol für schwere Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Bild zeigt einen :Priester, der während einer Zeremonie Särge ür nicht identifizierte Zivilisten segnet, die während der russischen Besatzung in Butscha von den russischen Truppen ermordet wurden. © dpa | Emilio Morenatti

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ruft schon dazu auf, jetzt auch in der Ostukraine Beweise für solche Kriegsverbrechen sorgfältig zu sichern, damit sie in Gerichtsverfahren verwendet werden könnten. Das sei aufwendig, müsse aber Priorität haben, sagt die Amnesty-Direktorin für Osteuropa, Marie Struther. Vize-Innenminister Jenin gibt aber zu bedenken: „Die Besatzer waren lange Zeit in diesem Gebiet und haben natürlich alles gemacht, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verdecken“. Allerdings hatten die Behörden in Kiew schon vor dem fluchtartigen Abzug der Russen, den die Gegenoffensive der ukrainischen Truppen ausgelöst hatte, mit Ermittlungen aus der Ferne begonnen, sie befragten Flüchtlinge und Kriegsgefangene.

Mehrere tausend Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ostukraine laufen deshalb schon nach Angaben der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, sie betreffen auch die Verschleppung von ukrainischen Kindern und Erwachsenen nach Russland.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Nach Angaben des Innenministeriums in Kiew haben die Ermittlungsbehörden ukraineweit bereits 30 000 Fälle von Kriegsverbrechen russischer Soldaten erfasst – es geht um Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigungen. In ersten Prozessen sind russische Soldaten, die Zivilisten erschossen haben, wegen Mordes zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die Ukraine erhält bei der Aufklärung solcher Verbrechen breite Unterstützung: Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag ermittelt bereits seit März, um Beweise zu Verbrechen des Völkermordes, gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu sichern.

Chefankläger Khan warnt: Jeder Soldat kann zur Rechenschaft gezogen werden

Chefankläger Karim Khan sagt, der Strafgerichtshof arbeite intensive auf ukrainischen Boden, um Verbrechen zu identifizieren. „Jeder der ein Gewehr anfasst, einen Panzer fährt oder eine Rakete abschießt, sollte wissen, dass er für begangene Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden kann“, warnt Khan. Das Büro des Chefanklägers arbeitet über ein gemeinsames Ermittlerteam eng mit der EU-Justizbehörde Eurojust, Experten mehrerer EU-Staaten und der ukrainischen Justiz zusammen. Die Beweise werden für spätere Prozessen gesichert, die entweder in der Ukraine oder gegebenenfalls beim internationale Strafgerichtshof stattfinden.

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Parallel ermittelt seit März eine Kommission des UN-Menschenrechtsrats in der Ukraine, ihre Experten sollen jetzt auch nach Izjum entsandt werden. Einen ersten Bericht will die Kommission im Im Oktober auf der UN-Generalversammlung vorlegen, er wird mit Spannung erwartet. Auch deutsche Behörden sind an den Untersuchungen beteiligt: Das Bundeskriminalamt hat schon hunderte Hinweise auf Kriegsverbrechen russischer Truppen, die Bundesanwaltschaft hat ein Verfahren zur Beweissicherung eingeleitet, lässt Flüchtlinge in Deutschland befragen. Generalbundesanwalt Peter Frank hat aber die Hoffnung auf schnelle Erfolge bei der Strafverfolgung schon gedämpft. Im 2011 begonnenen Bürgerkrieg in Syrien habe es auch acht Jahre gedauert, bis in Deutschland die erste Anklage erhoben wurde. Im Völkerstrafrecht, sagt Frank, brauche man „einen langen Atem“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.